Als erste der zehn von der Jury ausgewählten, besonders bemerkenswerten, Inszenierungen war Michael Thalheimers „Medea“-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt im Haus der Berliner Festspiele zu erleben. Die Titelrolle spielt Constanze Becker, die 2006 als Klytaimestra in der „Orestie“, ebenfalls unter der Regie von Michael Thalheimer, im Deutschen Theater Berlin das Publikum erschütterte.
Thalheimer hatte in seiner Inszenierung Partei ergriffen für die Gattenmörderin, und Constanze Becker hatte Klytaimestras Bluttat als Akt der Befreiung verständlich werden lassen.
Für die Kindsmörderin Medea liefert Thalheimer kein Erklärungsmuster, und Constanze Becker gestaltet ein schillerndes, unergründliches Wesen, das sich der Empathie entzieht.
Zu Beginn stapft Josefin Platt als Amme über die leere Bühne. Sie hat die Arme nach hinten ausgestreckt, bewegt sie wie Flügel, als wolle sie sich in die Luft erheben. Ihr Rücken aber ist gebeugt und ihr Kopf neigt sich zum Boden, als wolle sie sich in der Erde verkriechen. Die Amme beklagt Medeas Schicksal und ahnt das bevorstehende Grauen.
Langsam hebt sich der eiserne Vorhang im Hintergrund. Bühnenbildner Olaf Altmann hat für Medea hoch über der Bühne eine Stufe vor einer grauen Wand kreiert. Die Szenerie lässt an einen künstlichen Felsen im Eisbärengehege im Zoo denken. Medea wird zur Schau gestellt in unerreichbarer Höhe, mächtiger und stärker als ihre MitspielerInnen, und doch eine Gefangene, eine Ausgestoßene, neugierigen Blicken preisgegeben auf ihrem Felsvorsprung, auf dem sie kaum Bewegungsfreiheit hat.
Medea, mit verschmiertem Gesicht und zerschundenen Gliedmaßen, kauert an der Wand und schreit ihre Klage heraus, in der mehr Zorn als Trauer zu hören ist. Sie trägt ein weißes Kleid, darüber einen grauen Mantel und braune, halb hohe Stiefel. Kostümbildnerin Nele Balkhausen hat die AkteurInnen mit exquisiter Garderobe, modern mit Anspielungen auf klassische Gewänder, in grau, braun und schwarz ausgestattet. Nur Jason in seinem leuchtend blauen Samtanzug bildet einen indezenten Farbfleck.
Die Inszenierung erscheint fast wie eine Dokumentation, nicht angelegt auf große emotionale Erschütterungen, sondern auf die Aufdeckung von Medeas präzise geplantem Handeln.
Constanze Beckers Medea ist eine leidenschaftliche Frau, deren Gefühle ihr jedoch nicht den Verstand verwirren. Sie ist eine Fanatikerin, die sich auf ein einziges Ziel, die Rache an Jason, konzentriert. Mit derselben rücksichtslosen Grausamkeit, mit der sie ihn zum Helden gemacht hat, betreibt sie nun, nachdem er sie betrogen und verraten hat, seine Vernichtung. Bevor sie ihren Plan ausführt, hat sie sich einen Zufluchtsort gesichert.
Mit dem Wissen um Medeas Vorhaben ist es einfach, die Männer, die sich von Medea so leicht irreführen lassen, als Schwächlinge zu betrachten.
Wie mächtig und bedrohlich sie sein kann, beweist Medea, als sie mit ihrem Felsen, wie mit einem überdimensionalen Panzer, auf den Zuschauerraum losfährt. Und für das Publikum ist nicht wirklich erkennbar, ob diese Medea tatsächlich leidet bei dem Gedanken, ihre Kinder zu ermorden. Vielleicht stellt sie sich nur Gefühle vor, die sie gar nicht empfindet.
Auf jeden Fall weiß sie, dass sie mit der Tötung ihrer kleinen Söhne eine Grenze überschreitet. Der Frau, die ihr den Mann genommen hat, das Leben zu nehmen, ist noch verständlich, aber die Kinder tragen keine Schuld am Unglück der Mutter, und in Thalheimers Inszenierung hasst Medea ihre Söhne auch nicht dafür, dass sie vielleicht Ähnlichkeiten mit ihrem Vater aufweisen.
Schließlich findet Medea eine Rechtfertigung für den Kindsmord: Triumphierend verkündet sie, dass die Kinder ja ohnehin getötet würden, weil sie Kreons Tochter das vergiftete Kleid überbracht haben. Die Mutter übernimmt die Hinrichtung selbst, um ihre Söhne vor dem Zugriff von Fremden zu bewahren. Constanze Becker formuliert die perfide Logik dieses Gedankens mit einer Kälte, die das Blut gefrieren lässt.
Mittlerweile hat Medea bereits versprochen, den Kinderwunsch des Aigeus zu erfüllen dafür, dass er ihr Asyl gewährt.
Michael Benthin als Aigeus erscheint als etwas biederer, aufrichtiger Mann, der offenbar keine Vorbehalte gegen die Frau mit dem zweifelhaften Ruf hat. Zu ihm bricht Medea am Ende auf, im Kleinen Schwarzen, mit Highheels. Ihr Weg führt nicht in die Freiheit, sondern in eine neue Abhängigkeit.
Eigene Ziele hat Medea niemals verfolgt. Sie hat in der Obhut ihres Vaters gelebt, an Jasons Seite seine Erfolge erkämpft, und tritt nun in den Dienst eines neuen Herrn.
Medeas Erinnerungen an ihre Liebes- und Ehegeschichten erscheinen in Form von Piktogrammen, Schablonen ohne Gesichter, Durchschnittsmenschen, zu denen Medea nicht zu gehören scheint, obwohl sie doch zehn Jahre lang mit Jason in einer konventionellen Ehe glücklich gewesen ist. Bert Wredes Musik begleitet die Videoeinspielungen anfänglich mit zarten Klängen, die fast sentimental werden und schließlich lautstark stampfend in chaotischem Irrsinn enden.
Die Kinder treten in dieser Inszenierung nicht auf. Michael Thalheimer vermeidet emotionale Effekte. Er zwingt das Publikum, sich auf Medeas Gedanken einzulassen, die Constanze Becker, ab und zu von Gefühlsaufwallungen unterbrochen, mit manchmal quälender Langsamkeit in ihrer grauenvollen Konsequenz entwickelt.
Der Chor der korinthischen Frauen besteht aus nur einer Person. Medea macht sie zu ihrer Vertrauten und lässt sie Stillschweigen geloben. Eine allein kann es nicht wagen, gegen die Mächtige aufzubegehren, obwohl sie vier Leben retten könnte, wenn sie Medea verriete. Bettina Hoppe spielt die von Furcht, wie auch von Mitleid für Medea zerquälte Korintherin. Ihr Körper windet und verzerrt sich, ihre Hände suchen Halt an der glatten Mauer.
Agiert wird von allen AkteurInnen sehr sparsam. Am ausdrucksvollsten erscheinen die Hände. Constanze Becker streckt ihre Hände mit gespreizten Finger immer wieder weit aus, hilfesuchend, aber auch unübersehbar gefährlich. Einmal, im Dialog mit Jason, lehnt Medea sich von ihrer Stufe zu ihm hinunter, und die Beiden reichen einander die Hand. Für Jason, der Medeas Gesicht nicht sehen kann, ist das ein Zeichen der Versöhnung, oder vielmehr, er will es dafür halten.
Jason (Marc Oliver Schulze) hat zu Recht ein schlechtes Gewissen Medea gegenüber. Deshalb, und weil er Angst hat, redet er zu viel, und er will nicht glauben, dass die Frau, die ihm so ergeben war, sich tatsächlich an ihm rächen könnte.
Kreon (Martin Rentzsch) wagt nicht einmal, Medea anzusehen. Er zittert, während er mit ihr spricht. Wie Jason klammert auch er sich an die Hoffnung, Medea werde, ohne Unheil zu stiften, die Stadt verlassen, wenn ihr der erbetene Aufschub gewährt wird.
Medeas Hass wird nicht erwidert. Der Bote (Viktor Tremmel), der fassungslos vom Tod des Königs und seiner Tochter berichtet, wendet sich sogar voller Ergebenheit an Medea.
Als Jason vom Tod seiner Kinder erfährt, sinkt er auf die Knie. Er öffnet den Mund zu stummen Schreien und bietet Medea den Anblick, den sie sich gewünscht hat. Ob Medea diese Szene genießt, ist ihr nicht anzumerken.
Michael Thalheimers intelligente Inszenierung mit einem hochkonzentrierten Ensemble ist eine grandiose Neuinterpretation des Dramas von Euripides.
Constanze Becker, für ihre Darstellung der Medea im März mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring ausgezeichnet, wurde vom Festival-Publikum in Berlin begeistert gefeiert.