Die besonderen Sachbücher oder auch: wissenschaftliche Prosa – Serie: Die letzten Ratschläge für Bücherkäufer, auch nach Weihnachten (Teil 9/10)

„Black Box DDR“ heißt der von Ines Geipel und Andreas Petersen herausgegebene Band mit „Unerzählte Leben unterm SED-Regime“ im Marix Verlag aus Wiesbaden, der sowieso unser Hupf und Sprung ist, denn wir finden, daß er weit und breit nicht seinesgleichen findet, wo anspruchsvolle Bücher aus Theologie, Geschichte, Kulturwissenschaften, Literatur, ach, eigentlich allem, in redigierten und mit Anmerkungen versehenen Originalausgaben zu einem äußerst günstigen Preis angeboten werden. Ach, eigentlich geht es uns mit dem Angebot des Marix Verlages immer so, daß wir nicht wissen, welches Buch wir nicht wollen. Dieses Buch nun haben wir erst im Lesevorgang so richtig schätzen gelernt. Denn auf so was kommt man erst mal nicht, nachzufragen, wie war das eigentlich in der DDR für die, die sich auf den Weg gemacht hatten, sei es politisch oder in Liebesgeschichten. Woran sind diese gescheitert, am Milieu, den Verhältnissen, an den Leuten selbst.

Eigentlich unfair, gleich schon wieder so generalisierend ans Weltgewissen zu mahnen. Denn hier geht es erst einmal um Individuelles, um Biographien, ach nein, um biographische Ereignisse, die oft das ganze Leben bestimmten. Einige der Leute glaubt man zu kennen, andere lernt man kennen und die Geschichten sind so extrem unterschiedlich, daß man tatsächlich einige hintereinander lesen kann, ohne sie durcheinanderzubringen, obwohl es um eine gemeinsame Erfahrung, nämlich Fluchtgeschichten geht. So etwa 17 Millionen Einwohner hatte die DDR, von denen bis 1961 immerhin mehr als drei Millionen abhauten. Wieviele es nach dem Mauerbau gewesen wären, ohne Mauer, weiß man nicht. Aber schon nach dem November 1989 zogen unmittelbar 388 000 Ostdeutsche in den Westen. So sagt es das Vorwort, das uns einstimmt auf das Schweigen bei den Zurückgebliebenen noch vor dem Mauerbau. Es sind allerdings nicht Selbstbiographien, sondern ein Autor erzählt vom Leben eines anderen und dem Moment, wo im Leben alles als Drama zusammenkommt.

„Wehe dem Sieger!“ mahnt Daniela Dahn, bei Rowohlt herausgekommen, und fügt hinzu „Ohne Osten kein Westen“. Ein wesentliches Buch, kann man mehr über ein Sachbuch sagen? Der wunderbare spanische Politiker und Schriftsteller und Buchenwaldüberlebende Jorge Semprun zählt sie zu den wichtigsten Autorinnen der Gegenwart. Zu Recht. Worum es geht? Um ihr Thema der DDR, was sie war, was blieb, wie der Westen den Osten übernahm, wie das Gute in Ost und West in einem Mischmasch verkam und alle diese Ungeheuerlichkeiten, die wir Tag für Tag als normal hinnehmen und die Daniela Dahn nicht nur wiedergibt, sondern mit einer knallharten Recherche auch untermauert. Da fällt nichts zusammen, wenn man mal stochert. Daniela Dahn ist eine aufrichtige und klar und klug formulierende Deutsche. Von denen nämlich gibt es gar nicht so viele!

„Geheimnis Vatikan“ heißt der im Ecowin Verlag herausgekommene schwarze Band von Boberski/Bruckmoser/Peifer, der am Schluß auch eine Liste aller Päpste enthält, einschließlich ihres Wahlortes, auch der Sterbedaten, allerdings nicht, ob durch Gift oder einen natürlichen Tod. Zugegeben, das weiß man bei vielen bis heute nicht. Was man aber weiß, sind die internen Querelen, weil die in den Archiven des Vatikans schon länger einsehbar sind. Und man weiß von einigen Morden ganz genau. Was diese Verfasser, die mit der Kirche und den Päpsten alle sehr gut vertraut sind, hinzufügen, sind die letzten Mordtheorien – oder sollte man schon Beweise sagen – , die es beispielsweise zu Pius XI. gibt. Denn ihm hatte ein Vertreter seines Leibarztes ein paar Stunden vor seinem Tod eine Injektion gegeben, der ausgerechnet der Vater der Geliebten des Duce war, der ausgerechnet etwas gegen die Enzyklika hatte, die Pius XI. gegen die Rassegesetze als Konkordatsverletzung hatte”¦ach, das müssen Sie selber lesen, kurzweilig und wie wir befürchten, auch wahr.

„Wasser, Fasten, Luft und Licht“ dagegen ist die „Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland und bringt just das Gegenteil von Tod und Verdammnis. Uwe Heyll hat dies im Campus Verlag erschienene sehr übersichtliche Kompendium verfaßt und er geht einerseits historisch vor, indem er von den Anfängen der Naturheilkunde berichtet. In einem weiteren Kapitel differenziert er die unterschiedlichen Konzepte innerhalb der Naturheilkunde und vermag es, auch den unwissenden Leser dabei zu behalten, weil er diesen einerseits nicht überfordert, aber ihn bei den wichtigen Informationen nicht alleine läßt. Wir haben „Die Heilkunst der Naturheilkunde“ besonders gern gelesen, weil dort vieles zugespitzt wird, was einem die Augen öffnet. Allerdings sind auch die weiteren Kapitel bis zur Ganzheits- und Regulationsmedizin interessant, sollten aber nicht in einem durchgelesen werden.

„Die Verwandlung der Lust“ nennt der Pariser Kulturhistoriker Robert Muchembled seine in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienene „Geschichte der abendländischen Sexualität“, die es in sich hat. Denn wir denken immer, wir wüßten, wie sich das entwickelt hat, das immer freier Werden der Gesellschaften und mit ihr der Sexualität. Muchembled erzählt für die letzten 500 Jahre erst einmal das Gegenteil. Und wer Bilder und ihren Umgang mit Sinnlichkeit im Mittelalter kennt, wird ihm sofort Recht geben. Es war ein lustiges Völkchen, das da im gemeinsamen Baden nichts Unsittliches, sondern Sinnenfrohes fand. Die Renaissance sei es und die nachfolgenden Jahrhunderte, die die Restriktionen der Lust forderten und den Triebstau – hierin ganz Sigmund Freud – nutzten zum ökonomischen Aufbau des Lebens, des Landes, der Industrie, der Gesellschaft. Die Ehe war dabei das bewährte Mittel, auf die Restlust nicht ganz verzichten zu müssen, obwohl dann doch die Ehe eher der Kinderaufzucht diente und sich die Herren – denn um diese geht es – die Lust woanders holten. Ein Thema, das als Triebsublimierung immer schon für den Kapitalismus und dessen Verfechter des Calvinismus und auch des Luthertums stand.

Claus Leggewie und Elke Mühlleitner haben im Campus Verlag „Die Akademische Hintertreppe“ geschrieben, ein „Kleines Lexikon des wissenschaftlichen Kommunizierens“. Ob das Ironie ist oder echt ernstgemeint, so dazwischen finden wir, auf jeden Fall sind der ’Zettelkasten`, der ’Drittmittelantrag`, die ’Fußnote` oder auch ’Das Vorsingen` dabei, wenn unter 177 kurzen Essays, die man besser Begriffserklärungen und –klärungen nennen sollte, erzählt wird, wie man damit umgeht, um in der Welt der (angeblichen) Geistesgrößen mithalten zu können. Gucken wir uns „Prüfung“ an, im Wissenschaftsbetrieb nicht wegzudenken. Hier erfahren wir auf Seite 217, woher sich das Wort herleitet, über das Mittelhochdeutsche letztlich daher, woher viele Worte stammen, vom lateinischen probare, was ’billigen` bedeutet. Wir erfahren, wer die Prüfungen durchführt, warum sie oft der Gesamtpersönlichkeit, aber auch dem Wissen des Geprüften nicht gerecht wird, nicht aber, was man tun kann, wenn man an einen gerät, der zwar Prüfer ist, zuvor aber keine Lehrender war.

Vorheriger ArtikelNeuer Präsident der Europarats-Parlamentarier ist ein Türke
Nächster Artikel„Was du nicht willst, das man dir tu`, das füg` auch”¦ – „Manieren. Geschichten von Anstand und Sitte aus sieben Jahrhunderten“ im Focke Museum Bremen