Die ansonsten jedes Jahr stattfindende Retrospektive wich diesmal einfach "Rosas Welt" und fand nicht statt. Als einer der Höhepunkte der "rosa Welt" durften die "Rosa Kinder" mit einer 90-minütigen filmischen Hommage gratulieren. Rosas Kinder, das sind: Tom Tykwer, Chris Kraus, Julia von Heinz, Axel Ranisch und Robert Thalheim.
Neben Rosa wurde noch eine weitere Ikone des Berliner Undergroundfilms vorgestellt: der 75-minütige Dokumentarfilm "Lost & Found in Underground" von Silvia Lindner und Michael Sittner porträtiert Werk und Leben von Lothar Lambert, der sich ganz dem Independentfilm verschrieben hat und das schon seit über vierzig Jahren. Er wollte immer schon provozieren, die Titel seiner Werke verraten das: von „Die Alptraumfrau“ (1980) über „Qualverwandt oder Wenn der Pfleger zweimal klingelt“(2001) bis zu „Im tiefen Tal der Therapierten“ (2008). Lambert versteht es, neugierig zu machen, er liebt das Spiel mit dem Porno-Klischee oder die Parodie auf Hollywoodstreifen. In den 70er Jahren nannte sich Lambert die "Antwort Berlins auf Andy Warhol". Richtig gelungen ist ihm der Durchbruch allerdings nie. Der neben mir sitzende junge Mann im Kino wurde während der Doku beunruhigt von seiner Freundin gefragt, "ob er eigentlich auch dunkle Seiten in sich habe, die er gerne mal ausleben wolle…"
Die betörend duftende Bratwurstbude mit ihrem Bratwurstmarathon steht direkt vor dem zentralen Kino des Festivals, mit den vielen C’s: Central, Casino, City, Classic, Cinema und Club. Von morgens bis abends gibt es hier eine Schlange begeisterter Karnivoren. Vegetarier sollte man ohnehin besser nicht sein in der knappen Festivalwoche, denn die deftigen Wurstwaren, Leberkäse und Weißwürste gibt es flächendeckend auf jedem Empfang. Inklusive Mettigel versteht sich. Metzgerei Max – ebenfalls direkt neben dem Kino angesiedelt – wurde schon mehrfach als beste Metzgerei Deutschlands ausgezeichnet. Nicht wenige Festivalbesucher kaufen ihre Pausenvesper, bevor sie den Heimweg nach München, Köln, Hamburg oder Berlin antreten.
Der Hofer an und für sich ist ein sehr toleranter und neugieriger Filmliebhaber. Mag sein, dass den Rest des Jahres über hier nicht allzu viel los ist und daher jeder Film – egal wie queer oder speziell er ist – in seiner Weise geschätzt wird. Nicht umsonst sind die Filmtage als Nachwuchsfestival bekannt: hier kann man sich ausprobieren, davon zeugen auch schon einige gelungene Kurzfilme, wie etwa "Flucht nach vorn" von Florian Dietrich, der in neun Minuten mal eine ganz andere Gefängnisgeschichte erzählt: der zurückgewiesene Freund einer Insassin bricht in das Gefängnis ein, in dem seine Freundin sitzt, um ihr ihren Hund als Liebesbeweis in das Gefängnis zu bringen.
Am Verstörendsten waren die Dokumentarfilme des diesjährigen Festivals. Diese waren provokanter als viele der Spielfilme. Einige von ihnen widmeten sich dem Thema Sexualität auf ungewöhnliche Weise:
"Outing" von Sebastian Meise und Thomas Reider begann als Rechercheprojekt für einen Spielfilm, den die beiden über das Thema Pädophilie machen wollten. Sie fanden den Archäologen Sven, der offen vor der Kamera über seine Neigung zu kleinen Jungen redete. Das mag verwirrend sein, denn Sven ist ein sympathischer junger Mann, der sich so gar nicht in eine Schmuddelschublade stecken lässt. "Outing" zeigt den – bisweilen schwierigen – Alltag Svens, der sich fest vorgenommen hat, seiner sexuellen Neigung und den damit verbundenen Fantasien nicht nachzugeben und NIE Sex mit Minderjährigen zu haben. Offen erzählt er, wie schwierig dies bisweilen ist. Angeblich gibt es allein in Deutschland ca. 250.000 Menschen, die eine pädophile Neigung haben, diese aber nicht ausleben wollen.
"Love Alien" von Wolfram Huke ist mutig. Aus der Ich-Perspektive erzählt der Filmemacher, wie es sich anfühlt, mit 30 immer noch ungeküsst zu sein. Absolute Beginner oder Dauersingle werden sie genannt. Ein Film, der von Menschen erzählt, die mitten unter uns sind, die aber normalerweise aus Scham schweigen. In einer Gesellschaft, die von den Medien bisweilen als „Generation Porno“ betitelt wird, in der fast alles sexualisiert wird, kommen sie sich komisch vor, können nicht mithalten, sind, wie der Titel es treffend formuliert, "Love Aliens".
Von rosarot zu schneeweiss, der alles beherrschenden Farbe des Films "Virgin Tales". Die Dokumentation von Mirjam von Arx schließlich verstört auch den erprobten Zuschauer nachhaltig. Über zwei Jahre besuchte die Filmemacherin aus Zürich die Töchter der Wilson-Familie immer wieder und begleitete sie bei deren Bestreben, den richtigen Mann zu finden, der wie sie enthaltsam in die Ehe gehen will. Die Wilsons gehören den Evangelikalen an, ihre Väter organisieren mit den „Purity Balls“: Dutzende von Mädchen in schneeweissen Kleidern und Ballerinaschuhen tanzen seltsame Reigen und lassen sich nur von ihren eigenen Vätern zum Tanz auffordern. Zeremonien weiblicher Unbeflecktheit manifestieren so einen kruden Jungfrauenkult, der immer weitere Verbreitung in den USA findet. Die eine Tochter der Wilsons bekommt eine Videokamera von der Regisseurin, mit der sie ihr Leben im Videotagebuch einfangen darf: Ein Tagebuch einer Jungfrau, die sehnsüchtig wie im Märchen auf ihren Prinzen hofft. Manchmal kommt er ja auch. Wie bei ihrer Schwester, deren Herzblatt aus dem fernen Alaska zu ihr kam und der schon im Irak gedient hatte.
Der wunderbare 6-minütige, animierte Kurzfilm von Sophie Haller passt wie die Faust aufs Auge zum Thema: History of Virginity erzählt unterhaltsam und witzig einen kurzen Abriss über die Jungfräulichkeit.
Nach all dem rosarot von Praunheim sorgt dann das Wetter für beste Überraschung: innerhalb weniger Stunden schüttelte Petrus Dutzende von Himmelsdecken aus und verwandelte so die ganze bayrische Kleinstadt in ein wunderbares Schneeidyll. Ganz in Weiß fand dann auch das legendäre Fußballspiel FC Hofer Filmwelt (Schauspieler, Regisseure, Produzenten) gegen den FC Hofer Filmtage (Mitarbeiter und Fans des Festivals) statt und endete 2:1 für die Filmwelt. In der ewigen Statistik liegt die Filmwelt mit zwei Siegen vorn. Wir freuen uns auf nächstes Jahr…