Es begann mit der Einführung einer geringen Rezeptblattgebühr für Arzneimittel, die schon bald in eine Arzneimittelzuzahlung pro Verordnung überführt wurde, sowie ersten Leistungsausgrenzungen. Spätestens mit den Beschlüssen von Lahnstein 1992 unter der gesundheitspolitischen Verantwortung von Minister Seehofer (CSU), die den Wettbewerb zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen einführten, wurden die von der Politik damit verfolgten Deregulierungs- und Ökonomisierungsabsichten der GKV offenkundig. Die seit Beginn der 80er-Jahre verabschiedeten Kostendämpfungs- und Reformgesetze vom Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz 1983 über das Gesundheitsreformgesetz 1989, das Gesundheitsstrukturgesetz 1992, das Beitragsentlastungsgesetz 1996, das 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz 1997 bis hin zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) 2004 und GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 bilden jeweils Etappen auf dem geduldig, aber hartnäckig verfolgten Weg in die ordnungspolitisch sich verändernde gesundheitliche Versorgungslandschaft neoliberaler Prägung.
Auch Frau Simon, wie Bruns und Lüder, stellt fest: Neue Begriffe markieren diesen Wandel, der für den Sozialstaat und seine Wertvorstellungen zur Bedrohung geworden ist. Der gesetzlich Krankenversicherte habe sich daran gewöhnt, als Kunde wahrgenommen zu werden, der bei einem Serviceunternehmen versichert ist und Gesundheitsprodukte oder -dienstleistungen nachfragt. Aus dem leidenden Patienten wurde der eigenverantwortlich handelnde mündige Bürger, aus dem Arzneimittel eine Ware.
Mit dem GKV-WSG habe die endgültige Demontage des Solidaritätsprinzips die Zielgerade erreicht. Das Tempo, mit dem jetzt ganz unverhohlen auf die Auflösung der Solidargemeinschaft der GKV hingearbeitet werde, habe zuvor mit dem von Rot-Grün ein- und durchgebrachten Gesundheitsmodernisierungsgesetz eine deutliche Beschleunigung erfahren u. a. über enorme Zuzahlungsausweitungen, weitere Leistungsausgrenzungen, Wettbewerbsverschärfungen innerhalb des GKV-Systems, die Übernahme von Privatisierungselementen aus der Privaten Krankenversicherung wie Kostenerstattungs-, Prämien- und Selbstbehaltsregelungen für freiwillig Versicherte, die jetzt erlaubte früher als wettbewerbswidrig verurteilte Vermittlung von privaten Zusatzversicherungen durch die gesetzlichen Kassen, die Abschaffung der Härtefallregelung für sozial Benachteiligte und die Einführung der Praxisgebühr beim Arztbesuch. Alle diese Maßnahmen gehen vor allem zu Lasten von finanzschwachen Bevölkerungsgruppen und verschärfen den Trend der Risikoselektion innerhalb des GKV-Systems. Ganz offenbar wurde von der Politik dabei billigend in Kauf genommen, dass eine wachsende Zahl von GKV-Mitgliedern trotz ihrer gesetzlich garantierten Rechte auf eine ausreichende humane medizinische Versorgung gemäß SGB V diese nicht mehr realisieren kann, weil ihnen die für Zuzahlungen und Praxisgebühr erforderlichen Finanzen nicht zur Verfügung stehen. Sozial und finanziell Benachteiligte wie Hartz-IV-Empfänger, Sozialhilfebezieher, Heimbewohner, Behinderte und chronisch kranke Menschen, Bafög-Studenten und Wohnungslose würden an der Wahrnehmung ihrer gesundheitlichen Rechte gehindert. Die Solidarität des Starken mit dem Schwachen komme nicht mehr zur Wirkung.
Gleichzeitig würde Besserverdienenden die Möglichkeit eröffnet, vom Gesetzgeber gestrichene Leistungen durch private Zusatzversicherungen „zurückzukaufen“, so dass diese der ausgeweitete Trend zur Privatisierung gesundheitlicher Risiken finanziell weniger belastet, während der Obdachlose am Bahnhof Zoo in Berlin zehn Euro erbetteln müsse, um die im Bahnhof angebotene ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen zu können.
Dieser mit dem GMG sanktionierte Entsolidarisierungsprozess erfahre jetzt mit dem GKV-WSG eine nochmalige Steigerung u. a. mit der
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Einführung einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale für alle GKV-Mitglieder,
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Verschärfung des Verschuldensprinzips,
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Aufweichung der Überforderungsklausel für chronisch Kranke,
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Ausweitung von Teilkasko-, Selbstbehalts-, Prämien- und Kostenerstattungsmodellen auf alle GKV-Mitglieder, die es sich finanziell und gesundheitlich leisten können und dafür mit Prämien und Beitragsrückerstattungen aus dem Kassentopf belohnt werden,
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Nichtanrechnung von Krankenhauspauschalen auf die Überforderungsregelung,
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Zuzahlung für verordnete innovative Arzneimittel, wenn der Hersteller sich nicht zur Einhaltung eines Höchstbetrages bereit erklärt,
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Ausdünnung einer flächendeckenden wohnortnahen Versorgung durch die Reduzierung der Anbieterzahlen (bei Hilfsmitteln und im Rahmen von Sonderverträgen).
Alle diese Maßnahmen träfen arme und kranke Menschen ganz besonders, da sie größeren gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt sind und von daher einen höheren Versorgungsbedarf haben, den sie aber wegen der damit verbundenen Zuzahlungen nicht befriedigen könnten. Gleichzeitig werben die Kassen in einem harten Verdrängungswettbewerb untereinander mit Anreiz- und Belohnungsinstrumenten um sog. gute Risiken.
Frau Simon führt weiter aus, seit vielen Jahren werden die bei uns beschlossenen und umgesetzten „Gesundheitsreformen“ mit ihrem wachsenden Anteil an GKV-fremden, d. h. unsozialen Elementen, auch vom Europäischen Gerichtshof mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Deutsche Kommentare zur EuGH-Rechtssprechung im Bereich der Sozialversicherung warnen immer öfter vor den wettbewerbsrechtlichen Folgen der Deregulierung und Entsolidarisierung in der GKV.
In einem interessanten Aufsatz vom November 2006 (Soziale Sicherheit 11/06) macht Prof. R. Schlegel, Richter am Bundessozialgericht in Kassel, darauf aufmerksam, dass der Europäische Gerichtshof bisher noch anerkennt, dass die Träger unserer Sozialversicherung im Leistungsbereich keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts, weil sie nach dem Grundsatz der Solidarität rein soziale Zwecke erfüllen ohne jegliche Gewinnerzielungsabsicht. Unter Verweis auf das GKV-WSG fährt Prof. Schlegel dann fort: „Je mehr die Sozialversicherungsträger nach Prinzipien und Gesichtspunkten der privaten Versicherungswirtschaft agieren dürfen, desto eher liegt eine wirtschaftliche und keine soziale Tätigkeit vor, mit der Folge, dass das europäische Wettbewerbsrecht zur Anwendung gelangen kann. Dies gilt erst recht, wenn der Gesetzgeber den Kassen selbst klassische wettbewerbssichernde Maßnahmen wie Ausschreibungen und Vergabeverfahren zur Pflicht macht. Das GKV-WSG geht diesen Weg.
Er fragt sich deshalb, wie lange der EuGH noch bei seiner bisherigen Rechtsauffassung bleiben wird, also die Sozialversicherung nicht dem wettbewerblichen Unternehmensbegriff unterwirft. Sollte der EuGH angesichts des in Kraft getretenen GKV-WSG den sozialen Charakter der GKV, der auf dem Grundsatz der Solidarität zugunsten finanziell und gesundheitlich benachteiligter Menschen beruht, nicht mehr gewahrt sehen, dann wird er einen qualitativen Wandel des gesamten Steuerungssystems in der Gesundheitspolitik einleiten, der das Ende für die solidarische Krankenversicherung bedeutet und die Schleusen für den freien Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr und -wettbewerb in der Europäischen Union für den Gesundheitsdienstleistungssektor weit öffnet. Bolkestein-Richtlinie ante portas als reale Drohung dank der Einführung des GKV-WSG!
(Quelle: Sonderdruck des Vereins Demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VDPP) im September 2007 zum Apothekertag 2007)
Ingeborg Simon beschreibt die verwirrrende Abfolge und Zunahme von Verordnungen und Gesetzen unter den verschiedensten kaum nachvollziehbaren Namen, die der Kostenersparnis, leider hauptsächlich zu Lasten der ärmeren gesetzlich Versicherten, dienen soll. Aber gerade durch die Vielfalt und die für Ärzte und Patienten unübersichtlichen Schritte, wird eine Gleichgültigkeit erzeugt, die wiederum verhindert, sich dagegen zu stemmen, die die Folgen verschleiert, so dass kaum jemand weiß, wo er wirklich dran ist. Es bleibt ein diffuses Unbehagen, die Kosten und eigenen Beiträge sind im Geldbeutel zu spüren, ohne recht zu wissen, wie das Ganze zustande kommt.
… am Beispiel der Behandlung des psychisch Kranken
Der Psychiater und Psychoanalytiker Thomas Vogt beschreibt beispielhaft die Nöte des psychisch Kranken und seines Behandlers unter den neoliberalen Bedingungen in seinem Aufsatz „Die Behandlung der psychisch Kranken im Zeitalter des Neoliberalismus“:
„In der gegenwärtigen Finanzkrise zeigt uns der herrschende Neoliberalismus, ein wirtschaftspolitisches und sozialphilosophisches Konzept einer Wirtschaftsordnung, in der in einem möglichst von staatlichen Regulierungen freien Spiel von Angebot und Nachfrage möglichst viel Gewinne erzielt werden sollen, seine gefährlich-destruktive Seite. Nun ist der Neoliberalismus seit geraumer Zeit auch in der Medizin eingezogen. Während er in der Öffentlichkeit lärmend in Form nie geahnter Gewinne wie Verluste auftritt, führt er im Bereich der medizinischen Versorgung und hier insbesondere der Behandlung psychischer Erkrankungen in aller Stille zu einer allmählichen Aushöhlung des ureigensten Sprechens des Patienten. Kann doch der Betroffene immer weniger seine Anliegen und was ihn belastet vorbringen; zunehmend wird er von ihn objektivierenden Behandlungsprogrammen maltraitiert.
So wird ihm auch immer weniger Zeit eingeräumt, aus seiner Sicht und seinem Erleben sein Leiden zu schildern, um so durch fachkundige Hilfe angeleitet zu werden, mit dem zurecht zu kommen, was ihn belastet. Statt dessen wird er immer drängender mit einem Angebot konfrontiert, das ihm zwar eine bessere Welt verspricht, das aber oft gar nichts mehr mit ihm zu tun hat. Selbst eingeengt im sogenannten Qualitätsmanagement, orientiert sich der behandelnde Arzt immer mehr an abstrakt gefassten Behandlungszielen, die nach aufgestellten Planzielen objektiviert und evaluiert werden müssen und weniger daran, woran der Kranke leidet. Eine Parallele zur Finanzwelt beim Verkauf der jetzt ungedeckten Hypotheken steht wie ein Gleichnis für die ungedeckten Glücksversprechen der verkauften Medikamente.
Im Bereich der sozialen und psychiatrischen Sicherungssysteme der Krankenversorgung wurde durch Implementierung eines neuen Diagnoseschlüssels (ICD 10) ein Bewertungsrahmen festgelegt, der sämtliche individuelle Bedeutung einer psychischen Erkrankung eliminiert und die einzelnen Krankheitsformen auf objektivierbare, fast ausschließlich aus dem gestörten vegetativen Bereich des Menschen entstammenden Kriterien definiert. In fortlaufend neu aufgelegten Sozialplänen wird vor allem durch die permanente Selbstevaluierungsverpflichtung der Behandelnden, die jetzt wie einfache Lohnempfänger in stark hierarchisierten Abhängigkeitsverhältnissen eingeklemmt sind, aber wie Selbständige für ihr Geschäft verantwortlich gemacht werden, Druck ausgeübt.
Zielgröße der Evaluierung ist nicht mehr wie früher eine anhand einer systematischen Krankheitslehre und -äthiologie (Krankheitsherkunft) sich orientierenden Therapie, die ein möglichst individuell bezogenes, den entsprechenden Lebensentwürfen nachgezeichnetes Ziel verfolgte, sondern jetzt, unter dem Diktat der Ökonomisierung der Gelder sich darauf beschränkt, dem schwer kranken, psychiatrischen Patienten einerseits die teuersten Medikamente zu verabreichen, aber andererseits sich kaum mehr darum kümmert, wie die Kranken individuell mit ihrer Geisteskrankheit zurechtkommen. Die nunmehr neu festgesetzte Zielsetzung der Behandlung ist die Wiederherstellung der sozialen Verwendbarkeit in der generellsten Form der Arbeitsfähigkeit als Abwesenheit von Schlafstörungen, körperlicher und seelischer Erschöpfung und geistigem Desinteresse etc.
Die so Behandelten werden buchstäblich in gedämpftem Zustand allein gelassen in der Erwartung, es würde sich alles von selbst richten, wenn nur über einen genügend langen Zeitraum genügend viele und meist sehr teure Medikamente eingenommen werden. Die selbstverständlichsten Regeln der moralischen und psychologischen Erkenntnisse im Umgang mit psychisch Kranken wie Anleitung und Hilfestellung zur Wiedergewinnung der sozialen Orientierung, Erarbeitung neuer Verhaltensweisen und Verortung des Erlebens in der eigenen Geschichte, verbunden mit dem einbeziehenden Verarbeiten frühkindlicher Traumata werden dabei missachtet. Fehlende Betreuung wird dann mit einer Steigerung der ruhigstellenden Medikamente kompensiert, so dass hier ein Psychopharmaka-Markt für die Zukunft ersteht, der explosionsartig zunimmt, dessen Kosten bald nicht mehr bezahlbar sind und, erst einmal damit begonnen, die betroffenen Menschen kaum noch die Chance haben, aus diesem Kreislauf auszubrechen.
So ist es schon keine Seltenheit mehr, wenn Patienten von ihren ambulanten Besuchen beim Psychiater erzählen. Dieser habe hinter seinem Computer gesessen, die Schilderung ihrer Selbstwahrnehmung bald schon abgebrochen mit dem Hinweis, dass er jetzt noch für seine Dokumentation diese oder jene Antwort bräuchte; anstatt selbst vorgebrachtes, aus der subjektiven Sicht erklärtes Leid ernst zu nehmen. So geht es hauptsächlich noch um körperliche, möglichst objektivierbare Symptome. Dann wird aus einem Mann in den 50ern, der in einer Lebenskrise steckt, weil er im Beruf nicht mehr gebraucht wird, dem alles, was ihm sonst noch in seiner Identität gestützt hatte, verloren gegangen ist, ein Patient mit Schlafstörungen und „major depression“.
Dies gilt dann als Indikation für die von einer nie da gewesenen Präsenz der Pharmaindustrie angedienten Medikamente, von denen mittlerweile schon angenommen wird, es gäbe schon fast etwas gegen alles. Die dann erlebte Ohnmacht wird schuldhaft wieder auf den Behandler verlagert und dieser so unter Druck gesetzt. Derart eingespannt ist es kein Wunder, dass der behandelnde Therapeut sich mehr auf seine Dokumentation im Sinne seiner Exkulpierung konzentriert als auf das Verständnis der Erkrankung.
Ist die Biographie des Patienten und wie er sich und selbst seine Probleme sieht, nichts mehr wert? Muss man ihm eine Wunschwelt verkaufen nach dem Motto: Jedem Amerikaner sein Häuschen, egal, wer für die Folgen aufkommt. Ist er nicht am Ende selbst der Dumme?
Das prinzipielle Problem, um das es bei der psychiatrischen Versorgung in einem Wirtschaftssystem wie dem des Neoliberalismus geht, ist, dass dieses System im Wesentlichen auf Gewinnerwartungen der Unternehmen beruht, die entsprechend Investitionen tätigen und damit auch über die Schaffung von Arbeitsplätzen entscheiden. Die Befürworter der Keynschen Theorie (John Maynard Keynes *1883-1946) kritisieren dabei, dass der freie Markt schädliche volkswirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugen könne, da nur bei entsprechender Kaufkraft die jeweilige Nachfrage bedient werde. Außerdem besteht die Gefahr, dass Bedürfnisse, hinter denen keine entsprechende Kaufkraft steht, nicht abgedeckt werden, wie dies zum Beispiel bei der Behandlung psychischer Erkrankungen nicht selten zutrifft. Hierbei geht es ja bei der Behandlung oft um eine Unterstützung, die benötigt wird, um sich aus einer krankmachenden Umgebung zu befreien.
Ein simples Beispiel soll dies veranschaulichen. Ein Finanzmakler an der Börse, der 16 Stunden arbeitet und dabei viel Geld verdient, der sozusagen dem Ideal dieser Gesellschaft entspricht, leidet an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und einer allgemeinen Erschöpfung. In unserem momentan gängigen System geht er zum Arzt, wird von diesem unter der Störung Schlaflosigkeit, Kopfschmerz und „burn-out“ diagnostisch eingeordnet und verschlüsselt. Der Doktor verordnet ihm Medikamente gegen Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und evtl. eines der gängigen Antidepressiva; gibt noch den Rat, mal gründlich auszuspannen und bestellt den Manager zur Kontrolle in ein paar Tagen, den nur Sozialversicherten in ein paar Wochen wieder ein. Eine auf nachweisbare Wirkung ausgerichtete Verhaltenstherapie wird noch versuchen, mit dem betreffenden Patienten „Skills“ zu trainieren, wie er seiner Beanspruchung wieder für eine Zeitlang unter Einsatz seiner Ressourcen standhalten kann.
Systemkonform wird er den Absatz der Pillen steigern und sich selbst managen, dieser Aufgabe weiterhin gerecht zu werden. Der Arzt wird in seiner registrierenden Aufzeichnung, die er regelmäßig als nachweispflichtigen Behandlungsfortschritt an die Kasse weitergibt, zu dem er sich verpflichtet hat, auch noch sich selbst mit solchen Zielen evaluieren. So wird das herrschende System optimal im Sinne eines Selbstläufers der gängigen Grundsätze des Neoliberalismus erfüllt. Es wird viel geschafft, viel verdient und auch viel Geld ausgegeben. So lauten die allgemeinen Grundsätze.
Das einzige, das nicht passieren darf, ist die Frage aufkommen zu lassen, die das Geschehen hinterfragen würde: Also die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung dieser Behandlung und der Ursache der Erkrankung, wie sie der Patient selbst sieht. Dabei wäre dies doch die Basis für eine ernst zu nehmende, psychiatrische oder auch psychotherapeutische Behandlung. Dieses Problem kann auch nicht mit einer noch so neurobiologisch verbrämten Augenklappe hinweg gewischt werden. Natürlich kann man annehmen, dass alle seelischen Vorgänge auf einer irgendwie gearteten organischen Grundlage aufbauen. Es ist aber eine Verdummung der Leute wenn so getan wird, als ob in den Genen auch ein objektivierbarer Sinn und die Bedeutung einer Erkrankung verschlüsselt läge.
Hier entpuppt sich die gängige Wirtschaftsordnung in diesem Bereich nur allzu offen als System, das, weil nicht hinterfragbar, Wahncharakter annimmt. Alle folgen den Auguren bis zum Zusammenbruch. Wenn der dann eingetreten ist, wie jetzt in der Finanzkrise deutlich wird, sind es wieder die, die vorher schon am wenigsten mitbestimmen konnten, die das Süppchen auslöffeln müssen – die immer schon schweigende Mehrheit.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant beantwortet 1784 in einer Abhandlung die Frage, was ist Aufklärung? „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Diese zu einer Art Schlagwort gewordene Definition des Begriffs »Aufklärung«, wie er in dem Ende des 17. Jahrhunderts beginnenden Aufklärungszeitalter verstanden wurde, bezieht sich auf eine „Unmündigkeit“. Diese definiert sich als das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Zitiert wird sie besonders dann, wenn darauf hingewiesen wird, dass nur die Vernunft es ist, die dem Menschen weiterhelfen kann, und dass es der Entschlusskraft, des Mutes bedarf, sich des Verstandes zu bedienen, ohne sich dabei von andern leiten oder durch andere einschränken zu lassen.“
Bis dahin wurde Thomas Vogt bis auf kleine Korrekturen wörtlich zitiert. Für ihn entpuppt sich diese nicht hinterfragbare neoliberale Wirtschaft, obwohl er sie selbst als Herrschaft des Geldes und der Konzerne hinterfragt und geortet hatte, aus psychiatrischer Sicht als Wahncharakter. Ich selbst hatte in meinem Artikel über den Aberglauben in der Medizin die materiell-biologistische und Technikgläubigkeit als neue Form des Aberglaubens denunziert. Ursprünglich war sie zur Überwindung des alten mittelalterlichen Aberglaubens angetreten, hatte vieles auch auf diesem Wege erreicht, aber in dieser Eindimensionalität taucht der frühere Aberglauben in einem neuen Gewand wieder auf. Vogt schreibt von gängiger Wirtschaftsordnung. Über die Bezeichnung Ordnung kann man durchaus geteilter Ansicht sein, formal im Sinne der Regelungen und Gesetze schon, aber im Sinne der Bedürfnisse von Patienten, im Sinne der gesellschaftlichen Realitäten der Hintergründe und Zusammenhänge von Krankheiten und im Sinne von echten Behandlungschancen und –motivationen müsste man eher von Widersprüchlichkeit und extremer Unordnung sprechen. Ordnung ist nämlich etwas, was Sicherheit und Ruhe vermittelt, hier ist es letztlich eher das Gegenteil.
Vogt beschrieb den gängigen Vorgang, dass der Arzt zum Zwecke der Dokumentation und des Qualitätsmanagements sich hinter dem Computer verschanzt und den Patienten kaum zu Wort kommen lässt. Dazu verführt sicherlich das System der Gebührenordnung, wo Anwendungen, aber nicht die Zeit honoriert werden. In den Artikeln über den Burn-Out des Arztes beschrieb ich, inwieweit sich der Arzt dadurch vor den übertragenen Spannungen, den Erwartungen und der Verzweiflung des Patienten zu schützen sucht, die in der Psychiatrie eine große Rolle spielen. Die Perversion des neuen Systems zeigt sich auch in dem zwischenmenschlichen Teufelskreislauf, dass der Arzt mit Schuldgefühlen reagieren muss und dadurch in Spannungen gerät, weil er so wenig auf den Patienten eingeht, sich hinter einer Rechtfertigung durch die Gebührenordnung verschanzen und die Schuld wiederum an den Patienten bzw. dessen Krankheit delegieren muss, der dann wiederum umso mehr Spannungen überträgt.
In der kurzen Phase der Fünfminutenmedizin, allein ausgerichtet auf eine medikamentöse Behandlung, werden also umso mehr Spannungen übertragen. Außerdem überträgt jeder Patient Schuldgefühle, da diese zum Wesen vieler Krankheiten gehören. Viele Patienten jammern über sich und die Welt, was für den zuhörenden Arzt kaum länger zu ertragen ist. Bei einer bedarfsgerechten Medizin bleibt eigentlich nichts anderes übrig, sich Zeit für dieses zwischenmenschliche Wechselspiel und den Kontext zu nehmen. Aber das lässt eine profitorientierte Medizin nicht zu.
Wie bei jeder Systemveränderung gibt es Gewinner und Verlierer. Verlierer sind vor allem 2009 infolge der Behandlungsvolumina, d.h. für jeden Behandlungsfall wird nur bis zu einem bestimmten Pauschalbetrag bezahlt, die fallmäßig kleinen Nervenarztpraxen. Wenn sie ihren Patienten viel Zeit widmen, können sie nicht viele Patienten verkraften und bekommen wegen des geringen Pauschalbetrages diese Zeit in keiner Weise vergütet. Sie sind also, um ihre Praxis nicht schließen zu müssen, gezwungen, viele Patienten in kurzer Zeit durchzuschleusen. Das geht nur durch die Verschreibung von Psychopharmaka. Ein Schelm ist der, der vermutet, wer dahinter steckt. Während früher schwer psychisch Kranke für die Industrie eher uninteressant waren, als Folge und wegen ihrer Fehlverhaltensweisen diskriminiert und weggeschlossen wurden, sind sie nun durch den Pharmamarkt und die Behandlungsvolumina ein Profitobjekt ersten Ranges geworden und ihre Ärzte werden heftig umworben.