Trotzdem muss man erstmal auf die Idee kommen. Wie kam es dazu? Regisseur und Produzent Gerald Salmina im Interview: „Nachdem wir das Abenteuer Mount St. Elias überstanden hatten, gingen Axel Naglich und ich 2010 auf Expedition zum Everest. Unser eigentliches Ziel war der K2 – der Everest sollte als Vorbereitung auf eine Skiabfahrt des zweihöchsten Achttausenders dienen. Axel, Kameramann Günther Göberl und ich kamen mit der Höhe gut zurecht. Dann ging am Nordsattel des Everest eine Eislawine nieder, die einen Bergsteiger vor unseren Augen begrub und uns um Haaresbreite verschonte. In diesem Moment stellten wir uns die Frage, ob wir unser Glück nach dem St. Elias nochmal so herausfordern dürften.“ Es wurde im Himalaya nicht nur ein Abenteuer, sondern lebensgefährlich. Wetter und Natur zeigten ihre wahre Macht.
„Andererseits wollten wir wieder einen großen Skifilm machen.“ Der Regisseur beschloss daraufhin, sein Filmteam und sich diesen Gefahren nicht mehr auszusetzen, sich aber inhaltlich trotzdem mit Eis und Schnee und Skiabfahrt zu schäftigen. Was lag da näher – auch in Flugstunden, nach Österreich kann man sogar mit dem Auto fahren – als die Streif. So gesehen ein Glück, dass noch nie jemand die Streif „befilmt“ hatte, besungen und beschrieben dagegen schon. So gab es „daheim in den Alpen“ genug zu tun.
„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“ – dieser Spruch aus Kindertagen bewahrheitet sich meist nicht, aber das Land des Schnees (‚HIMA-LAYA‘) und Mitteleuropas legendäre Abfahrt bieten schon Beispiele, um die von fürsorglichen Eltern ausgesprochene Warnung zu untermauern. Manche wollen ja noch schneller nach unten als auf Schiern. Da ist doch zum Beispiel jemand nur deshalb auf den immerhin 7543 Meter hohen Changzi in Tibet gestiegen (der Nordwand des Everest gegenüber), um von dort, aus einer Höhe von über 7200 Metern, mehr als 1000 Meter in die Tiefe zu fallen, äh, springen. Dem Basejumper Valery Rozov gelang so im Mai 2013 sogar der Weltrekord für den bis dato aus der größten Höhe ausgeführten Sprung. So wie die Skiabfahrer in Kitzbühel das Material von Brett bis Wachs bis aufs Letzte auskitzeln, musste für den Rekordspringer ein besonderer Wingsuit angefertigt werden, der in der dünnen Luft oben am Dach der Welt auch taugt, will heißen, bremst. Immerhin, es hat geklappt, Rozov landete 1 km tiefer auf dem Rongbuk-Gletscher. Dass das keine Selbstverständlichkeit bei Fallschirmsprüngen von Bergen ist, zeigt das Beispiel von Jan Davis. Nachdem die Naturschutzbehörde des Yosemite-Nationalparks in Kalifornien das Schirm-Springen von dem Monolithen „Le Capitan“ wegen zu vieler Verstöße gegen die Regeln des Parks und den Umweltschutz verboten hatte, protestierte die Basejumperin und Stuntfrau im Oktober 1999 mit einem illegalen Sprung gegen das Verbot. Die 60Jährige zerschellte einen Kilometer tiefer am Fuß der Steilwand, die auch viele Freikletterer anzieht, und fand den Tod. Für Kinder und Vernünftige heißt die Moral von der Geschicht‘: Benutz‘ doch den bequemen Wanderweg, springe nicht.
Doch Vorsicht ist geboten: Erstens stammt der Spruch eingangs des Absatzes aus der Bibel; die Quelle ist unter anderem eine Lutherbibel. Und diese Quellen stehen ja unter Übersetzungs- und anderen Vorbehalten und sind zur Beeinflussung unserer Moral prädestiniert. Zweitens wissen wir nicht genau, was in dort in den USA passiert ist bzw. warum. Nach dem Abitur war Jürgen Möllemann Fallschirmjäger bei der Bundeswehr, später Vizekanzler. Dass ein so erfahrener Springer nicht weiß, wie man den Fallschirm öffnet, ist ausgeschlossen; Möllemann nahm am 5. Juni 2003 Geheimnisse mit ins Grab. Nicht ausgeschlossen, dass dies auch bei Jan Davis der Fall war. Der Sprung, der zwar ungesetzlich, aber mit den Parkbehörden abgesprochen war, sollte als einer von Fünfen die Gefahrlosigkeit solchen Tuns beweisen. Sozusagen ein Vorführeffekt. Mit der Bedenkenlosigkeit der Sprünge wollte man dagegen protestieren, dass keine Sprunggenehmigungen mehr ausgestellt wurden. Über 200 Menschen schauten von unten zu. Besonders tragisch: Davis Ehemann Tom Sanders war im Publikum, doch nicht nur das. Sanders, selbst Fallschirmspringer und Stuntphotograph, der u.a. an James-Bond-Filmen mitarbeitete, filmte das Event, das landesweit übertragen wurde. Er filmte also den Tod der eigenen Ehefrau. Die geplanten fünf Sprünge sollten nicht nur die Sicherheit dieses Extremsports demonstrieren, sondern waren auch eine Reaktion auf den überflüssigen Tod eines anderen BASE-Jumpers, der auf der Flucht vor Park Rangern ertrank.
Die Streif bietet durch die gut dokumentierten Leistungssportereignisse viele Beispiele dafür, dass eine Abfahrt hier, auch wenn sie unter den Augen und Anfeuerungen der Zuschauer und von Fernsehkameras verfolgt passiert, durchaus nicht immer umjubelt im Zielraum oder in der Umkleide endet, sondern oft genug im Krankenhaus, im Rollstuhl oder in einer anderen waagerechten Lage des Körpers. Deshalb wohl, und als Verbeugung vor dem internationalen Markt natürlich, der Untertitel des Streifens „One Hell of a Ride“.
85% ist die maximale Neigung an der wohl schwierigsten Stelle, der Mausefalle. 80 Meter maß hier der weiteste jemals gestandene Sprung. Die schnellsten Menschen laufen etwa 10 Sekunden, um 100 Meter zurückzulegen. Hier wird – ohne künstliche Skisprungschanze – im Extrem fast diese Strecke im SPRUNG zurückgelegt! 142 km/Stunde kann die Geschwindigkeit im Zielschuss betragen.
Nochmal Regisseur Salmina: „So entstand die Idee, einen Film über das legendärste Skirennen der Welt zu planen. Nicht zuletzt, weil Axel (Naglich) mehr oder weniger auf der Streif aufgewachsen ist. Und ich habe seit meiner Kindheit kein Rennen versäumt.“
Wer den Weg ins Kino findet, den erwarten zwei Stunden Kitzbühel und dabei nicht nur die Stars. Heimischer Folkore und einheimischen Arbeitern und Freiwilligen, die durch Tag- und Nachtarbeit an den Pisten das schnelle und vergleichsweise sichere Abrutschen erst ermöglichen, wird ausreichend Raum gewidmet. Wenn das nordöstliche Tirol im Schnee ertrinkt, gibt es viel Arbeit, wenn man am nächsten Tag noch fahren und abfahren will. Auch wird nicht zugelassen, dass man den Mythos von der globalen Erwärmung hier mitten in den Bergen vergäße: Hier wird mit Kanonen nicht auf Spatzen geschossen, natürlich auch nicht mit Schrapnell auf Gebirgsjäger; aber was hier an „Schnee“ verschossen wird, geht auf keine Kuhhaut. Und wenn die Schneekanonen nicht helfen, wird der Schnee mit Lastwagen herangekarrt und vom Hubschrauber aus abgeworfen – und das alles nur für ein paar Sekunden Abfahrtsspaß, den die Protagonisten meist wohl auch nicht haben, da der Druck zu groß ist. Geld regiert die Welt?
Der Streif-En begleitet fünf Athleten bei ihrer zwölfmonatigen Vorbereitung auf das wichtigste Rennen ihrer Karriere: Aksel Lund Svindal aus Norwegen, Erik Guay aus Kanada, Max Franz und Hannes Reichelt aus Österreich sowie den Neuling Yuri Danilochkin aus Weißrussland – diese Story ist besonders rührend. Wer aus dem Außenseiterstaat in Osteuropa stammt, hat aller Wahrscheinlichkeit nur geringe Mittel. Doch Profisport verursacht Kosten, schon beim Training. Gleichzeitig kann man nicht arbeiten gehen, hat also auch kein Einkommen. Juri Danilochkin trainiert also mit seiner Mutter, die ihn auch managt. Inzwischen zwar nicht mehr, aber während dieser Jubiläums-Doku. Immer auf der Suche nach dem Schnee, günstigen Übungsmöglichkeiten und preiswerten Übernachtungen entsteht so ein Mini-Roadmovie im großen Streif-Streifen. Die enge Beziehung zwischen Sohn und Mutter, die sich im Ausland, im scharfen Wind der Berge und des Profiwintersports bewähren müssen, wird treffend dargestellt. Nicht nur einmal müssen die beiden notgedrungen im Auto nächtigen.
1981 startete der schwedische Slalomspezialist Ingemar Stenmark – vielleicht der eleganteste Skirennläufer aller Zeiten – auf der Jagd nach Weltcuppunkten zum ersten Mal auf der Streif. Es blieb sein einziger Lauf hier. Mit über zehn Sekunden Rückstand auf den Laufbesten wurde er 34.
Franz Klammer – neben Roland Collombin jüngster Streifsieger mit 21 Jahren – und Hermann Maier, Daron Rahlves und Didier Cuche – er siegte 2012 mit 37 Jahren und somit als bisher ältester – haben auf der 3312 Meter langen Strecke Geschichte geschrieben. Maier, der Sieger von 2011, soll gesagt haben: „Das soll die schwerigste Strecke der Welt sein? Da geht es doch zweimal sogar bergauf!“ Die Rekordsieger Cuche und Rahlves geben Einblick in ihr ganz persönliches Verhältnis zur Streif, die eben niemanden kalt lässt. Vielleicht auch ein Grund fürs Global Warming.
Salmina hat seine Arbeit getan, jetzt heißt es nur noch für alle Schneebegeisterten im Kino: „Ich glaub, mich streift ein Film!“
Der Film startete am 15.01.2015.