Der Sieg der Linie über die Materie, der Sieg der Zeichnung über die Ausführung – Der große Rundumschlag der Albertina Wien mit Michelangelo, Picasso, William Kentridge und Herbert Brandl

Sitzender Jünglingsakt und zwei Armstudien, (Recto), um 1511, (Rötel, weiß gehöht)

Aber nicht diese Daten sind es, die uns gewogen machten, auch die anderen drei Ausstellungen der Michelangelo-Superausstellung zuzugesellen, sondern eher ihre inhaltliche Verwandtschaft! Wie das?, fragt nicht nur der Laie, sondern auch der Kunstkenner. Aber dieser weiß sofort etwas damit anzufangen, wenn wir weiterargumentieren, daß wir es bei allen vier Schauen mit zwei Schlüsselbegriffen der Renaissance zu tun haben: der Inventio und der Idee, die bei den Ausführungen dann der Zeichnung den ersten Platz in der Reihenfolge der intellektuellen und ästhetischen Bewertungen zumißt: in Florenz der Linie.

Damit ist etwas Holterdiepolter zusammengefaßt, was in der Kunsttheorie der Renaissance sehr viel elaborierter neue Maßstäbe setzte. Die aus der Rhetorik – hoch geachtet im Mittelalter – übernommene ’inventio’ als der Beginn einer Erfassung eines Gedankens im Kopf wurde auf die Kunst übertragen, in dem also der Vorstellungskraft des Einzelnen, seinem Schöpfergeist, das ’ingenium’ zugesprochen wurde und dieses menschliche Genie nun als Schöpfer schon gottgleich wurde. Also kamen der Skizze, der Zeichnung als Vorbereitung für Malerei und Skulptur, der Planskizze in der Architektur, dem Bozzetto in der Bildhauerkunst, also der erstmals niedergelegten Idee, dem Konzept des Werkes die höchste Priorität zu.

Alle vier doch so höchst unterschiedlichen Ausstellungen in der Albertina beweisen, daß diese in der Renaissance entwickelte Wertschätzung auch heute noch gilt. Am ausgeprägtesten, aber durchschlagendsten sind naturgemäß in der Ausstellung die Zeichnungen von Michelangelo. Da allerdings haben die Ausstellungsmacher – Kurator ist Achim Gnann, dessen Ausführungen im Katalog wir noch nicht lesen konnten, von dem wir uns allerdings angesichts seiner Hängung nicht vorstellen könnten, daß er eine andere Meinung als unsere hätte, daß die erste ausführende Erprobung eines Gedankens das höchste kunstgeschichtliche und künstlerische Gut ist –, da also haben allerdings die Ausstellungsmacher schon vorgesorgt!

Es gibt nämlich schon vor der Renaissance den sogenannten Paragone, den Wettstreit der Künste, nämlich welcher der Gattungen der erste Preis zukommt. Nach dieser Ausstellung weiß man auch unabhängig von der genialen und jungfräulichen Priorität der Erfindung, daß es die Zeichnung ist, ja sein muß. Das nun allerdings liegt an dem Nebeneffekt, daß die Michelangelozeichnungen an den Wänden Originale sind, während die Skulpturen wie Moses oder das Grabmal Julius’II. grobe Gipsabgüsse sind, und auch die Gemälde an den Wänden Kopien durch andere sind, was auch für die Papst- oder Medicibildnisse – Auftraggeber Michelangelos – durch Raffael und andere gilt.

Andererseits bejahen wir dieses Ausstellungskonzept, die Gesamtheit des Schaffens Michelangelos im Dreigestirn von ihm und Raffael sowie Leonardo da Vinci wenigstens vorzustellen und damit auch über die „Schlacht von Cascina“ und ihre Zeichnungsentwürfe (Originale!) zu berichten, die anders als das sixtinische Deckenfresko in Rom nie in Florenz ausgeführt wurde, wo auch die Medici-Kapelle von Michelangelo nicht vollendet wurde, die der nächste Papst Leo X. in Auftrag gab. Da allerdings hat Michelangelo mit den Allegorien der Figuren von Nacht und Tag sowie Morgen und Abend für die Jahrhunderte bis heute Vorbilder und kunsttheoretischen Gesprächsstoff geliefert, der mit dem Begriff des ’nahsichtigen Schenkels’ nur angedeutet sei.

Daß der Entwurf wichtiger ist als die Ausführung, beweist jedes Blatt der aus aller Welt gekommenen Originale, die sich den vielen aus dem eigenen Bestand der Albertina zugesellen: aus den Uffizien und der Casa Buonarroti in Florenz, dem Louvre in Paris, dem Metropolitan Museum in New York, dem Teylers Museum in Haarlem, der Royal Collection in Windsor Castle (Privatbesitz der englischen Königin), dem British Museum in London – sowie aus Privatbesitz. Da zudem von den frühesten bis zu den spätesten Zeichnungen alle Perioden seines langen Künstlerlebens vorhanden sind, erhält jeder auch den eigenen Einblick in die Entwicklung seiner Zeichnungen. Sind es am Anfang noch die Lehrervorbilder, die er nachahmt, schält sich bald sein eigener körpernaher Stil heraus, der eigene ästhetische Kategorien entwickelt.

Eine Aussage wie die, daß ihn die platte Realität nicht interessiert habe, weil jeder naturalistisch zeichnen, malen oder bildhauern könne und er deshalb der Natur noch seinen körperlichen Prägestempel aufgedrückt habe, und unter seinen Fingern die Muskeln noch muskulöser, die Sehnen noch schärfer, die Knochen noch knöchriger und das Fleisch noch fleischiger geworden seien, er also ein wirklicher Menschenschöpfer gewesen sei, langen nicht, um zu begründen, worin der Reiz und das Wunder seiner Zeichnungen liegt, von der keine der anderen gleicht, selbst wenn sie Ähnlichkeiten aufweisen und es in ihnen immer um Körper und ihre Teile geht, um männliche Körper muß man ganz deutlich konstatieren, womit Michelangelo eine Tradition der griechischen Antike fortsetzt, die die Römer bewahrt haben und die er und die Renaissance wieder aufnehmen.

Wenn wir dennoch jetzt nur von seinen drei Abschlußzeichnungen am Ende der Ausstellung sprechen, dann deshalb, weil in ihnen das Konzentrat seines Könnens zusammenfließt, nämlich mit Hilfe des Stiftes Gefühl zu transportieren, uns also auf eine Reise anhand von drei Kreuzigungsdarstellungen mitzunehmen, die jedem verständlich ist, weil auch der fernste Laie die Unterschiede ersieht, was Absicht dieses fulminanten Schlußpunktes ist. Jeweils drei Personen sind vorhanden, Christus hängt am Kreuz, Maria und Johannes der Evangelist, der Jünger daneben. Trostlos sind alle drei Zeichnungen, die den Schmerz der Welt verdeutlichen sollen und können und die Isolation und Niedergeschlagenheit der beiden am Kreuz fühlbar machen. Aber allein in der dritten, der vom Britischen Museum, finden die drei Personen zu einer neuen Konstellation. Formal ist es ein Dreieck, das sie bilden, aber inhaltlich ist es durch das Anschmiegen von Maria und Johannes an den Kreuzesbalken unterhalb von Jesus eine Übernahme seiner Schmerzen und ein Standhalten ihres eigenen Schmerzes, das durch Zärtlichkeit stabilisiert wird. Ein sehr schöner Abschluß einer berührenden Ausstellung.

Und die anderen drei Ausstellungen? Natürlich haben sie je ihren eigenen Wert, aber sie führen dennoch diesen Ansatz von Michelangelo ungewollt fort. Dem Grazer Herbert Brandl geht es in seinen Monotypien der „Berge und Landschaften“ um die Idee des Bergs schlechthin und seine Sichtbarmachung in der Welt, indem er sowohl das Individuelle wie auch das Typische von Bergen vereint. Wolf Biermann hätte gesagt: „viel zu viele Berge“ und damit gemeint, daß er den Berg an sich jetzt begriffen hätte. Diese Ausstellung ist trotz der viel zu vielen Berge überschaubar. Anders schaut es da mit Picasso und Kentridge aus. Das sind in ihren Themen jeweils gewaltige Vorhaben, die wir hier einfach unter die Linie, den Strich, die Zeichnung subsumieren.

Warum man das bei Picasso trotz der vielen selten gezeigten Ölbilder zu Kriegsthemen oder den Anverwandlungen von Velasquez und anderen machen darf, liegt an unserer These, daß der ’begabte’ Maler Picasso ein Meister in der Zeichnung ist. Unter völlig anderen Voraussetzungen als Michelangelo läßt sich hier nachverfolgen, was Picasso mit einem einzigen Strich ausdrücken kann, an den noch ein Auge angefügt wird oder eine Parallele. Lassen Sie sich darauf ein, unter diesen Gesichtspunkten eine Ausstellung, die thematische Fundierung hat, auch einmal anzuschauen.

Das gilt auch, und wiederum völlig anders, für William Kentridge. Schon der erste Saal beweist, um was es uns geht. Da werden in raffinierten Videosequenzen schon ausgeführte Linien wieder weggenommen, durch Punkte ersetzt, die auch wieder verschwinden, durch eine einzige Handbewegung des Künstlers, der wegwischt und zufügt, wie es schon der Geniekult der Renaissance beschwor. Diese ganze Schau, die vielfältig und geradezu lustig, die Anstrengung der Augen nach soviel Schauen wieder gut macht, ist ein einziger Triumph des Künstlers über die Materie.

Mit einem Wort: auf nach Wien. Soviel Augenschmaus werden Sie in derartiger Konzentration sobald nicht wieder geboten bekommen.

Kataloge sind vorhanden. Auf diese gehen wir gesondert ein, denn sie sind immer auch das Hilfsmittel für Interessierte und Enthusiasten, die den Besuch doch nicht geschafft haben.

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www.albertina.at

Reiseliteratur:

Felix Czeike, Wien, DuMont Kunstreiseführer, 2005

Baedecker Allianz Reiseführer Wien, o.J.
Lonely Planet. Wien. Deutsche Ausgabe 2007
Walter M. Weiss, Wien, DuMont Reisetaschenbuch, 2007
Marco Polo, Wien 2006
Marco Polo, Wien, Reise-Hörbuch

Ganz neu und in Wien immer sehr gut zu gebrauchen ist von M.P.A.Sheaffer „Jugendstil. Auf den Spuren Otto Wagners in Wien“ aus dem Pichler Verlag. In neun Touren mit der Trambahn, der U- und S-Bahn sowie den Bussen entlang den Werken Wagners in Wien erfahren wir, weshalb der Architekt und Städteplaner Otto Wagner unter so viel guten Architekten und Künstlern des Jugendstils die Übervaterrolle eingenommen hat. Wichtig dabei war und ist seine Affinität zur Technik, denn allzuoft haben Künstler das Technische abgelehnt, statt den zivilisatorischen Nutzen in eine anschaubare Ästhetik zu zwingen. Nein, unsere heutige Plastikunkultur wäre einem Otto Wagner nie eingefallen. Es verband die technische Funktionalität mit der Eleganz der Linie und nicht nur seine Stadtbahnstationen sind dafür ein noch heute sichtbarer Ausdruck. So werden die Wagner-Villa in Hütteldorf, dem XIV. Bezirk besucht und natürlich die Kirche am Steinhof, die weithin sichtbar geblieben ist und der auch Thomas Bernhard literarische Referenz erwies, einfach, weil sie die Kirche der psychiatrischen Anstalten war. Derzeit gilt dem „Chef-Bauzeichner“ Wagners, Joseph Maria Olbrich, eine sensationelle Ausstellung im Leopoldmuseum, in der auch dessen Arbeiten für Wagner eine tiefere Bedeutung erhalten und spezielle Applikationsmotive wie die Sonnenblume – ein Merkzeichen Wagners – nun auf Olbrich zurückgeführt werden. Das tut weder der Bedeutung Wagners, noch diesem Jugendstilführer irgendeinen Abbruch, zeigt aber, wie noch immer alles im Fluß ist. Das Buch ist zweisprachig, linke Seite auf Englisch, rechts das Deutsche und die Fotos bringen das alles ins Eins. Uns gefielen vor allem die praktischen Beschreibungen, wie man wohin kommt, gut.

Tip: Gute Dienste leistete uns erneut das kleinen Städte-Notizbuch „Wien“ von Moleskine, das wir schon für den früheren Besuch nutzten und wo wir jetzt sofort die selbst notierten Adressen, Telefonnummern und Hinweise finden, die für uns in Wien wichtig wurden. Auch die Stadtpläne und U- und S-Bahnübersichten führen– wenn man sie benutzt – an den richtigen Ort. In der hinteren Klappe verstauen wir Kärtchen und Fahrscheine, von denen wir das letzte Mal schrieben: „ die nun nicht mehr verloren(gehen) und die wichtigsten Ereignisse hat man auch schnell aufgeschrieben, so daß das Büchelchen beides schafft: Festhalten dessen, was war und gut aufbereitete Adressen- und Übersichtsliste für den nächsten Wienaufenthalt.“ Stimmt.

Anreise: Viele Wege führen nach Wien. Wir schafften es auf die Schnelle mit Air Berlin, haben aber auch schon gute Erfahrungen mit den Nachtzügen gemacht; auch tagsüber gibt es nun häufigere und schnellere Bahnverbindungen aus der Bundesrepublik nach Wien.

Aufenthalt: Betten finden Sie überall, obwohl man glaubt, ganz Italien besuche seit Jahren derzeit Wien! Überall sind sie auf Italienisch zu hören, die meist sehr jungen und ungeheuer kulturinteressierten Wienbesucher. Wir kamen perfekt unter in zweien der drei Hiltons in Wien. Sinnvoll ist es, sich die Wien-Karte zuzulegen mitsamt dem Kuponheft, das auch noch ein kleines Übersichtsheft über die Museen und sonstige Möglichkeiten zur Besichtigung in Wien ist, die Sie dann verbilligt wahrnehmen können. Die Touristen-Information finden Sie im 1. Bezirk, Albertinaplatz/Ecke Maysedergasse.

Mit sehr freundlicher Unterstützung von Air Berlin und den Hilton Hotels Wien.

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