Der Neue auf Platz 1 heißt David Peace mit „Tokio im Jahr Null“ bei Liebeskind – Krimiwelt: Die Bestenliste von Welt, Arte und Nordwestradio für Dezember 2009

Linus Reichlin ist mit „Der Assistent der Sterne“ im Verlag Galiani auf Platz 3 gerückt. Schon seinen ersten Roman um den Kriminalinspektor Hannes Jensen aus Brügge, „Die Sehnsucht der Atome“, hatte die KrimiWeltBestenliste gewürdigt und dieser Krimi zog seine Bahn als bestes Krimidebüt beim Friedrich-Glauser-Preis 2009 und Reichlin erhielt dafür den Deutschen Krimipreis des gleichen Jahres. Nun zeigt sein zweiter Jensen-Roman, daß der inzwischen zum Ex-Kommissar Mutierte weiterhin am Ball bleibt und mit ihm sein Autor Reichlin. Diesmal geht es nicht nur um die Atome irgendwo anders – was damals die FAZ-Kritik verleitete, im Atom den Mörder zu vermuten – , sondern um den Biß, den ihm eine fast unbekannte Beischläferin auf einem naturwissenschaftlichem Seminar in Island verpaßte. Zwar wird Hannes Jensen kein Vampir, aber die Folgen sind trotzdem beträchtlich, denn aus der Entzündung, die er verdeckt, damit die Gefährtin Annick nichts merkt (schöne Sitten!) wird ein Menetekel, denn die Weissagung verkündet, daß die Tochter der Freundin Annicks gemordet wird von einem, der ein Mal am Hals trägt. Was tun? Dran glauben und dem Schicksal seinen Weg lassen oder widerstehen. Aber wie? Das ist nicht nur spannend, sondern hat durch den Einbezug vom nördlichen Europa und afrikanischen Menschen und Gebräuchen eine besondere Farbigkeit der Darstellung gewonnen.

„Frankie Machine“ von Don Winslow aus dem Suhrkamp Verlag ist neu auf Platz 4. Aber Don Winslow ist nicht neu, denn sein “Pacific Private“ hatte das neue Genre des ausgewiesenen Kriminalromans bei Suhrkamp in diesem Jahr miteingeleitet, was die Krimi-Jury in diesem Fall auch honorierte, denn wir hatten schon verschiedene Mal moniert, daß diese neue Reihe auf der Bestenliste ansonsten nicht vorkommt, Krimis, deren Qualität wir höher einschätzen. Frankie heißt eigentlich Frank Machianno und ist ein harmloser Mann vom Angelladen in San Diego und liebt das Strandleben und bestimmte Frauen, eigentlich aber war er eine nun pensionierte Tötungsmaschine im Auftrag der Mafia. Und die Opfer vergessen nicht. Also wird zur entscheidende Frage: Wer mordet zuerst? Und wer überlebt? Der Alte oder die jungen Killerspunde? Ein ziemlich harter Krimi, der seinen Charme dadurch gewinnt, daß man ihn immer auch als sanfte Parodie auf die Spezialität des amerikanischen Kriminalromans lesen kann: kaltblütiger Thriller.

„Gewitter über Pluto“ von Heinrich Steinfest aus dem Piper Verlag hat uns noch nicht erreicht. Aber die Erinnerung an den Krimi „Mariaschwarz“ des österreichischen Autors, der in Stuttgart lebt, ins uns in der Melange von österreichischem Schmäh und obertitalienischer Lebenskultur noch fest in Erinnerung. Mehr das nächste Mal aus den Wiener Bezirken. Auch über „Winter in Maine“ von Gerard Donovan, erschienen im Luchterhand Verlag, wissen wir nur von den Nachrichten aus England, wo der Guardian diesen Krimi zum Buch des Jahres 2008 kürtem „wohl weil man einem Mann, der in einer Waldhütte voller Bücher lebt und seinen Sprachschatz mit Shakespeare erweitert, nachsehen kann, daß er alle Männer niederschieße, die sein Revier betreten. Julius Winsome – so heißt der Ich-Erzähler und düstere Held – ein Hannibal Lecter im Melancholikerhemd.“, so Tobias Gohlis, der Sprecher der Jury.

Obwohl wir in der Regel nur auf die neu plazierten Krimis länger eingehen, doch noch einmal ein Wort zu Malla Nunn, „Ein schöner Ort zu sterben“ bei Rütten & Loenning, wozu wir der ausführlichen Besprechung wegen das letzte Mal wohlwollende Leserbriefe erhielten. Ja, genauso sehen wir das auch, daß dieser Roman mit einer menschlichen Wärme uns Blicke in die fünfziger Jahre Südafrikas erlaubt, die uns erkennbar werden lassen, worin die Fehlentwicklungen dieses Schmelztiegels lagen und wie sich Menschen verhalten können, um auch unter schwierigen Bedingungen ihre Integrität zu wahren.

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(3)

David Peace: Tokio im Jahr Null

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Liebeskind, geb., 416 S., 22,00 €

Tokio 1946: In den Trümmern der Stadt liegen zwischen Kriegsleichen die Opfer eines Frauenschänders. Erniedrigte Polizisten, demütigende Alliierte. Entmenschlichung? Menschenleben. Volume 1 von 3 schwarzen Gesängen aus Tokio. Erschütternd. Kein Spaß. Ein wahrer Fall. Große Literatur.

2

2

(1)

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott

Hoffmann und Campe, geb., 224 S., 18,99 €

Wien/Kitzbühel: Brenner hat den sechsten Krimi überlebt, nun also der siebte. Der Ex-Polizist und Ex-Detektiv ist Chauffeur und kriegt sein Mündelkind entführt. Vom lieben Gott vielleicht, zur Strafe für Mama Doktors Abtreibungsklinik. Simon sucht Helena – und findet Gott. Welch Wunder! Oh jaa. Haaaas!

3

3

(4)

Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne

Galiani Berlin, geb., 388 S., 19,95 €

Brügge/Antwerpen/Reykjaví­k: Seine Leidenschaft für Physik lockt Ex-Kommissar Jensen nach Island. Dort begegnet er der Erfüllung einer Wahrsagung und lebt fortan im Dilemmasalat. Tot – Untot, Kind – Nichtkind, Wahrheit – Lüge. Jensen schlurft durch Ambivalenzen. Reichlin II: Prognostik und Kaleidoskopik.

4

4

(-)

Don Winslow: Frankie Machine

Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte

Suhrkamp, TB, 366 S., 8,95 €

San Diego/Hawaii: Frankie ist der Sonnyboy vom Anglerladen und der friedliche Sheriff auf der Touristenpier. Doch wer sich mit ihm anlegt, lernt ihn als Frankie Machine kennen. Als raffinierten, kaltblütigen Killer. Ein flotter Ritt durch die West-Coast-Abteilung der amerikanischen Mafia.

5

5

(-)

Heinrich Steinfest: Gewitter über Pluto

Piper, geb., 432 S., 19,95 €

Wien/Stuttgart/Universum: Ein Pornodarsteller will ein Strickwarengeschäft eröffnen, ein Außerirdischer ein Archaeopteryx-Modell auf seinen Heimatplaneten entführen. Der ganz normale Steinfest-Wahnsinn also. Mit langem Atem erzählt: Es geht durch die Weiten des Alls.

6

6

(-)

Gerard Donovan: Winter in Maine

Aus dem Englischen von Thomas Gunkel

Luchterhand, geb., 208 S., 17,95 €

Maine, Tal des St. John River: Julius Winsome ist nicht so einnehmend wie sein Nachname verspricht. Als jemand seinen Terrier Hobbes erschießt, intensiviert der Einsiedler sein Studium von Shakespeares Wortschatz und legt er jeden Jäger in seinem Revier um. Der Hund hieß Hobbes und war trotzdem Julius treu.

7

7

(6)

Friedrich Ani: Totsein verjährt nicht

Zsolnay, geb., 288 S., 19,90 €

München: Seit sechs Jahren ist Scarlett verschwunden, ein Nachbarjunge als Mörder verurteilt. Eine Leiche wurde nicht gefunden – und jetzt hat ein Schulfreund Scarlett auf dem Marienplatz gesehen. Polonius Fischer sucht die Verlorene. Ani ganz bitter: Deutschland, ein Fiasko. Nach einem realen Fall.

8

8

(7)

Malla Nunn: Ein schöner Ort zum Sterben

Aus dem Englischen von Armin Gontermann

rütten&loening, geb., 420 S., 19,95 €

Jacob’s Rest, Südafrika 1952: Zwei Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Captain Pretorius, unumschränkter Herrscher über das Provinzkaff, treibt tot im Fluss. Die Gesetze zur Rassentrennung werden verschärft. Malla Nunn evoziert einen kaum vergangenen Wahn: Apartheid. Blutrausch. Hatz.

9

9

(8)

Hí¥kan Nesser: Das zweite Leben des Herrn Roos

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrand

btb, geb., 528 S., 21,95 €

Kymlinge/Maardam: Herr Roos gewinnt im Toto, Anna Gambowska haut aus der Entziehungskur ab. Vor ihnen: die erstaunliche Leere Zukunft. Bevor es beiden gelingt, Tritt zu fassen, kommt ihnen ein Mistkerl in die Quere. Inspektor Barbarotti muss ran, trotz Gipsbein. Lebensweise, nachdenklich, hoffnungsfroh: Nesser.

10

10

(-)

William Boyd: Einfache Gewitter

Aus dem Englischen von Chris Hirte

Berlin Verlag, geb., 452 S., 25,–€

London: Wie das Leben so spielt. Als Adam Kindred den Pharmakologen Philip Wang auffindet, begeht er den Fehler, ihm das Messer aus der Brust zu ziehen. Nun gilt Adam als Mörder – und den Mördern als Geheimnisträger. Adam könnte einen Pharmakonzern ruinieren – und hat doch kaum sein Leben in der Hand.

Die „Bestenliste“ wird im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats: Samstag 8.05 – 9.00 Uhr; Sonntag 15.05 – 16.00 Uhr in der „Literaturzeit“ des NordwestRadio vorgestellt. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

Die Jury setzt sich zusammen aus:

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Kathrin Fischer, Frankfurt/Main, Hessischer Rundfunk
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Jochen Schmidt, Düsseldorf, elder critic
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer

Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur.Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.

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