Auch hierüber müßte man seitenlang schreiben, so vielschichtig sind die einzelnen Erdteile, von denen wir nur kurz sagen, daß Australien ein Völkergemisch bringt, Amerika reich wirkt und trotz der vielen Personen nur einen Mestizen und eine Schwarzen zeigt, der noch dazu links außen als Repoussoirfigur uns den Rücken zuwendet. In „Afrika“ sind die beiden Teile des Gemäldes in der Richtung gegenläufig. Links sieht man von vorne arbeitende Menschen, allerdings sieht man sie nicht, weil sie mit dem Hut auf dem Kopf so gebückt arbeiten, daß sie gesichtslos sind. Man kennt diese Formen von Diego Riveras schuftenden Indios. Rechts wiederum sieht man ebenfalls Gesichtslose, weil sie von hinten arbeitend dargestellt sind. Insgesamt ein sehr körperhafter, aber gesichtsloser Kontinent. Asien erkennt man sofort und auch die dortige militärische Gewalt. Europa nun wiederum sieht aus wie der Exodus der Juden schlechthin. Europa ist auf der Flucht.
Dazwischen ein Wort zum Publikum. Wir können uns nicht erinnern, wann wir je ein so aufmerksames und miteinander das Gespräch suchende Publikum erlebt haben. Alte genauso wie Junge. Gerade die höhere Schulklasse vor uns diskutiert emsig miteinander und ehemalige DDR-Bürger haben hier für sich selbst Geschichtsunterricht. Die Ausstellung ist in den ersten Tagen gestopft voll. Allein am Publikum merkt man schon, wie wichtig, ja überfällig diese Ausstellung ist. Denn Tübke gibt es zwar immer wieder, aber ein Tübke als Retrospektive tat not und zeigt, welch Nachholbedürfnis auch für die weiteren DDR-Maler besteht.
Am Eingang hatte man von Tübkes Zusammentreffen mit Ernst Fuchs 1977 gelesen und sieht nun diese Bilder im ausgewählten Zyklus als „Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze“ von I-VII. Diese im Stil des magischen Realismus der Österreicher verfertigten Gemälde sind aber schon von 1965-67 und so lassen wir uns von Schülern aufklären, daß diese Bilder entstanden, weil sich Tübke zutiefst gedemütigt fühlte durch den miesen Umgang der DDR-Oberen mit ihm und seine Analyse des böse-bürokratischen Vorgangs gegen ihn in diese Bilder hineinmalte. In schreienden sehr hellen Farben malt er seinen Protest und in Formen, die eben dem magischen Realismus der österreichischen Maler entsprechen, speziell Fuchs. Der offizielle Text sagt uns, daß diese Bilder und damit ihr Schöpfer damals aufgrund deren „metaphysischer Sinnbildhaftigkeit“ verboten werden sollten? Dies sind Schlüsselbilder auch für seinen Status als Künstler. Ist er Befürworter der gesellschaftlichen Verhältnisse? Nein, auf keinen Fall. Ist er Ankläger? So einfach ist das nicht. Denn er ist Beteiligter an diesem Welttheater, das sich die Kunstgeschichte zu eigen macht, wo man die Grausamkeiten von Bosch so sieht, wie Nazi-Embleme, wo ein metaphysischer Weltenrichter a la Chirico in Bedeutungsperspektive alles andere zur Bedeutungslosigkeit verkleinert. Sehen wir dort die Kugel von Dürers Melancholia und schon wieder die Dix ähnlichen Gestalten, aber Dalí ist auch dabei. Ein Panoptikum der Sinne und Sinnlichkeiten und Unsinnigkeiten. Und retten im 7. Bild der lebenserinnungen nun die Frauen die Welt? Halten sie sie oder halten sie sich an ihr fest? Ziemlich unvermittelt strahlt einem auf einmal schwülstige Leiblichkeit entgegen, so rosig wie der späte Renoir, aber so drapiert wie bei Courbet oder seinem Adepten Corinth.
Ein Bild, das ein ganzes Buch zum Beschreiben und Analysieren erfordert, ist „Sozialistische Jugendbrigade“ von 1964. Daß es nicht um Jugendliche geht, war Realität dieser Jugendbrigaden, wo nicht entsprechendes Alter, sondern die entsprechende Gesinnung Voraussetzung war. Aber nicht die Ältlichkeit der Dargestellten ist das Erstaunliche, sondern die Kälte, ja Gefühllosigkeit, die einem hier entgegenstrahlt. Keine Blickverbindung zwischen all denen, die um den Tisch herumsitzen, der in der kleinsten Einheit an die Darstellungen vom „Letzten Abendmahl“ erinnert. Nur ist hier keine Konzentration auf den in der Mitte ziemlich selbstherrlich Sitzenden, sondern jeder guckt am anderen vorbei, mit leeren Blick und einem hohlen Gesichtsausdruck. Elegisch alles, aber stärker sind die Gefühle nicht. Jeder ist einsam, jeder steht für sich allein, das Gegenteil der Vorstellung von einer Brigade. Dann aber auch wie Szenen aus vergangenen Zeiten, denn die Frau rechts vorne, die uns nur das schicke Kleid mit den gebauschten Renaissanceärmeln und die niedlichen Ballerinaschuhe zeigt, sie ist einfach dekadent und die lässige Haltung mit der Zigarette soll diese Einschätzung vielleicht stützen. Aber ihr kurz gescheiteltes Haar ist sehr praktisch im alltäglichen Arbeitsvollzug.
Und was soll da vorne der Sekt und die Trauben. Ist das „Verkehrte Welt“? Die männliche Dominanz auf dem Bild allerdings ist realistisch, wie ja die ganze Malweise so außerordentlich realistisch ist, daß sie überreal wird. Und erst einmal die Wandmalereien im Hintergrund. Wie im Hotel Astoria. Arbeitende Bauern und protzige Madams. Und links der Regenbogen neben den Fördertürmen. Geht hier der Sozialismus auf oder ist das christliche Heilssymbol, das Himmel und Erde verbindet gemeint. Und gleichzeitig stürzt die Mauer ein! Ein unglaubliches Bild, das einen schauern macht. Fünf Personen wagen den renaissancehaften Blick in unsere Augen, der dort oft den Selbstporträts der Maler entspricht. Aber was teilen sie uns mit? Hier ist niemand wichtig und alle oberwichtig. Jeder ist orientierungslos, der eine leidet mehr darunter als der andere. Irgendwie scheint alles egal zu sein, das aber auf der höchsten Stufe. Und wo ist der Maler? Der ist nicht mehr nötig, denn seine Rolle beim Aufbau dieses ’real existierenden’ Sozialismus ist ausgespielt.
Ausstellung:
bis 13. September 2009, anschließend ab 30. September bis 3. Januar 2010 in Berlin im Kunstforum der Berliner Volksbank, leicht reduziert, wie der Katalog verrät.
Katalog:
Tübke. Die Retrospektive zum 80. Geburtstag, hrsg. von Hans-Werner Schmidt, E.A.Seemann Verlag. Man kann sich gut vorstellen, daß Besucher völlig ohne die Absicht, den Katalog unterm Arm mit nach Hause zu nehmen, gekommen sind. Aber die vielen Verrätselungen von Bildern und Hängung legen nahe, es genauer wissen zu wollen. Zudem zeigt der Band im Katalogabbildungsteil eine chronologische, von der Ausstellung abweichende Folge, die sehr hilfreich ist. Mit vielen essayistischen und schlichten Erinnerungsbeiträgen wird der Maler von vielen Seiten beleuchtet. Eduard Beaucamp ist auch dabei, der in der alten Bundesrepublik nicht nachließ, für die kunstgeschichtliche Bedeutung dieser DDR-Maler zu streiten und dessen Mahnerrolle durch die neue Bundesrepublik noch längst nicht erschöpft ist. Leider.
Reiseliteratur:
Tobias Gohlis, DuMont Reistaschenbuch Leipzig, 2006
Marco Polo, Leipzig, 2006
Mit freundlicher Unterstützung des Leipzig Tourismus und der Universität Leipzig sowie des Hotels Mercure am Johannisplatz
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