Er zeigt in überzeugender Weise auf, wie „dem Islam“ nach dem Zusammenbruch des „kommunistischen“ Ostblocks um die UdSSR die Rolle als Begründung für die Fortexistenz der NATO und ihrer imperialistischen Ziele nunmehr im Kontext der zunehmenden Globalisierung über den im engeren Sinn staatlich organisierten Bereich hinaus zugeschrieben wird. Zu den Voraussetzungen dafür gehört das offenbar allgemeinmenschliche Bedürfnis, sich der eigenen Identität als Individuum, vor allem aber als Mitglied einer Gruppe, durch die Konstruktion des Anderen und die Abgrenzung von diesem zu versichern. Werner Ruf weist die politische Instrumentierung dieser Methode in der Geschichte nach, hier aus naheliegenden Gründen zunächst in der Zeit der Kreuzzüge, in der erstmals in nennenswertem Maße ein Fundamentalgegensatz zwischen (christlichem) Abend- und (islamischem) Morgenland konstruiert wurde.
Dass es nach wie vor gerade der Islam ist bzw. die Muslime, die sich im Fadenkreuz „westlicher“ Kritik befinden, liegt angesichts der Bedeutung der in ihren Ländern befindlichen Ressourcen nahe und ebenso angesichts der aus Kolonialismus und Imperialismus herrührenden Präsenz einer großen Zahl von Muslimen in den Ländern des Westens. Im Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten auf der Grundlage der bürgerlichen-kapitalistischen Produktionsweise und der auf der gegen die mit dem Feudalismus verbundene Religiosität gerichtete Aufklärung, die schließlich auch die erstmalige Erklärung der theoretisch für die ganze Menschheit gültigen Menschrechte mit sich brachte, brauchte es zur Abgrenzung der je eigenen Nation eine neue Begründung. Diese fand sich – dem mit der Aufklärung einhergehenden Wissenschaftlichkeit gemäß – zunächst in einem kruden Biologismus, dem Rassismus. Mehr als dessen wissenschaftliche Unhaltbarkeit waren es jedoch die Erfahrungen mit seinen barbarischen Konsequenzen im 20. Jahrhundert, die es – bei wohlbemerkt fortdauernder Wirksamkeit unter der Oberfläche – notwendig machten, den Begriff der „Rasse“ im offiziellen Diskurs durch den der „Kultur“ zu ersetzen. Der Autor macht nicht zuletzt am Beispiel von Samuel P. Huntington’s Werk „The Clash of Civilizations?“ deutlich, wie der Begriff der Kultur oder Zivilisation hier strukturell dem der vermeintlich unveränderlichen Rasse nachgebildet ist. Darüberhinaus zeigt er ausführlich die politische Funktion als Erbe der Ideologie des „Kalten Krieges“ auf und weist den „Krieg gegen den Terror“ als „gegenzivilisatorisches Projekt“ aus.
In Kapitel 4 widmet er sich der Frage, was denn „der Islam“, der im genannten gegenzivilisatorischen Diskurs mit Terrorismus und anderen Menschrechtsverletzungen identifiziert wird, in Wirklichkeit ist. Er betont einerseits die Vielfältigkeit des Islams und andererseits seine enge Verwandschaft zu den beiden anderen Buch-Religionen, dem Judentum und dem Christentum. In diesem Zusammenhang wendet er sich auch überzeugend gegen das Gerede vom „christlich-jüdischen Erbe“ des Abendlandes und betont die überragende Rolle, die die islamische Welt zum Zeitpunkt ihrer höchsten zivilisatorischen Blüte für die Befreiung eben jenes Abendlandes aus Angesicht der halbbarbarischen Zuständen des frühen Mittelalters und des in ihm vorherrschenden Obskurantismus gespielt hat. Die gerade den Islam ausschließende Mär vom „christlich-jüdischen Erbe“ wird übrigens interessanter Weise just in der Zeit propagiert, wo traditionell antisemitische Kreise – darunter erklärte Rechtsextremisten – ihre Begeisterung wohl nicht für „die Juden“ wohl aber für das zionistische Israel entdecken (Kap.11)– ein weiterer Hinweis darauf, dass Antisemitismus und Islamophobie die gleichen Wurzeln haben und letztlich nur zwei Seiten der selben Medaille sind.
Gefährlicher als diese ansonsten eher marginalen Kräfte sind aber sicher die von der Art Thilo Sarrazins, Henryk M.Broders, Ralph Giordanos oder Alice Schwarzers auf Grund ihrer Stellung in Mittender Gesellschaft (Sarrazin) oder ihrer ehemals humanistischen Positionen(Giordano, Schwarzer, „Antideutsche“). Ihnen und den verschiedenen anti-islamischen websites ist das 10.Kapitel gewidmet.
Im abschließenden Kapitel (Kap.12) weist der Autor nach, dass der Kampf gegen die vermeintliche „Islamisierung“ des Abendlandes keineswegs nur die hier lebenden Menschen aus überwiegend islamischen Ländern trifft – auch wenn sie anderen Religionen oder auch gar keiner anhängen -, sondern auch die einheimische „christliche“ Bevölkerung, denn es handelt sich hierbei um den Kampf für eine anderer Gesellschaft. Ruf schreibt: „ Der rassistische Hass auf Migranten ist das vordergründige, populistische und wirksam inszenierte Argument auf dem Weg zur Schaffung einer autoritären und zunehmend gleichgeschalteten Gesellschaft….Dies ist der dialektische Zusammenhang zwischen der Barbarisierung und Entmenschlichung ’der Anderen’ und der Barbarisierung des ’Wir’.
Vermutlich ist es dem Umfang des Buchs geschuldet, dass die Behandlung einer Reihe von einschlägigen und festgefahrenen Ansichten über den Islam und der Unterschied zum Islam und der kulturellen Praxis mancher Muslime manchmal zu kurz kommt. So hätte etwa die in einigen islamischen Ländern noch geübte Praxis der Steinigung (schon bekannt von den alten Griechen und aus dem Alten Testament), der „Ehrenmord“ oder die der weiblichen Beschneidung deutlich als vor- oder außerislamisch, jedenfalls aus der patriarchalischen gesellschaftlichen Struktur und nicht notwendigerweise aus der Theologie erwachsen, gezeigt werden können.
Ungeachtet dessen muss festgehalten werden, dass dieses Buch glücklicherweise dank des wissenschaftlichen Ansatzes des Autors weit davon entfernt ist, nur den Gläubigen zu predigen. Vielmehr bietet es eine gewaltige Menge von unwiderlegbaren Tatsachen, deren Kenntnis für Antirassisten auch in der Auseinandersetzung mit den Drahtziehern der islamophoben Propaganda unverzichtbar ist.
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Werner Ruf: Der Islam – Schrecken des Abendlands. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert, PapyRossa Verlag, Köln 2012, 129 Seiten, 9,90 EUR