Das ist zum einen das Geschichtenerzählen, eine Forderung, die der Film einlöst, in dem er geradezu unbändig draufloserzählt, das Leben kracht aus allen Poren, aber die Zuschauer vermögen ohne jegliches Problem der kontinuierlichen Filmhandlung zu folgen. Das ist aber zum anderen die Entwicklung der Charaktere, die tatsächlich stattfindet und der man folgen kann, weil die die Voraussetzungen für persönliches und soziales Lernen implizit aus den Situationen, die wir auf der Leinwand sehen, erwachsen, übrigens etwas, was sehr selten passiert, denn meistens passiert nur viel im Film, aber nicht mit den Leuten. Mag sein, daß dies auch daher rührt, daß der Film mit 165 Minuten Überlänge hat, aber eben keine Länge, was eine Kunst ist. Drittens kommen die Aufnahmen hinzu, die sehr oft in Großaufnahme auf Mimik und Gestik der Personen gerichtet ist, dann aber häufig von oben eine ganze Region, einen Volksauflauf oder sonstwas erfaßt.
Kurzfassung: Schon als Kind in Indien zeigen sich die Besonderheiten Rizvans, die später seine Schwägerin in den USA als Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine bestimmte Form des Autismus, die einerseits verhindert, daß diese Menschen ihre Umwelt und deren Bedürfnisse voll wahrnimmt, andererseits aber auch dadurch nicht gehindert ist, den Menschen die Wahrheit zu sagen, ohne Rücksicht auf Verluste sozusagen. Die Mutter liebt dieses Kind besonders, wie es oft geschieht und die Stärke, die diese Figur später entwickeln kann, ist nur auf der Basis hingebungsvoller Mutterliebe zu verstehen. Die Mutter aber stirbt und der erwachsene Rizvan kommt nach Amerika, wo sein Bruder ein erfolgreicher Unternehmer ist, aber in ein Land, das genormtes Verhalten noch stärker als Verhaltenskodex vorgibt als andere Länder. Rizvan fällt also unaufhörlich auf. Aber auch positiv wie der geschiedenen und alleinerziehenden Mandira (Kajol), die als starke Frau eben auch die guten Seiten abweichenden Verhaltens würdigt.
Rizvan nämlich ist der tumbe Tor unserer mittelalterlichen Dichtung, der Narr, der die Wahrheit spricht, nur das diese Rolle heute obsolet ist, weil keinem’normalen’ Erwachsenen diese Naivität noch abgenommen würde, die bei einem leicht behinderten Menschen wieder glaubwürdig wird. Wie dieser in Liebesschnulzen und als Schönling eingeschätzte Schauspieler diese Rolle spielt, das ist große Kunst und harte Arbeit. In der der Vorstellungen folgenden Pressekonferenz erläuterte Khan seine Vorgehensweise seiner Rollenvorbereitung. Wissenschaftlich hatte schon das Team das Wichtigste zu diesem Syndrom zusammengetragen. Er hat allein zwei Monate mit zwei daran leidenden Kindern deren Bewegungen und Reaktionsweisen verinnerlicht. Einstudiert hat er es dann selbst vor dem Badezimmerspiegel so lange, bis er sich vor seine Kollegen traute.
Ihm gelingt es, diese Rolle von Anfang bis Ende aus seiner speziellen Situation zu gestalten in Mimik, mit nach innen gedrehten Augen, einer Haltung, die einfach erbärmlich in sich zusammenfällt und einer Gebärdensprache, die zum Himmel weint. Und weinen müssen auch die Zuschauer und sich dessen nicht schämen, daneben dürfen sie auch viel lachen, sehr viel lachen, entweder über die Komik der Situation oder über Ereignisse wie einem schnell organisierten Autistenprotest gegen die miese Behandlung des „Ich heiße Khan und ich bin kein Terrorist“. Denn nach dem Fall der Türme ist alles anders. Zwar hatte Khan die schöne Mandira zur Frau errungen, doch sein Name und sein Glaube (Moslem) wird Motiv für den Totschlag an deren Sohn, der längst sein eigener geworden war. Sie schickt ihn fort, um den Präsidenten des Landes davon zu künden. Was dann folgt ist ein Panoptikum amerikanischen Lebens quer durch Amerika, das grandios rüberkommt, im Guten wie im Schlechten und am Schluß darf sich die Liebesgeschichte, die dieser Film auch ist, endlich erfüllen.
Das ist nur ein einziger Film, in dem aber ganz viele Genres zusammengesperrt sind. Das macht den Reiz aus, aber auch die leichte Überforderung in Szenen, die uns kitschig vorkommen, aber gar nicht so sind, weil sie einfach nur von den Gefühlen der Menschen sprechen, die diese eine Person Khan eben so gut herauskitzeln kann. Dabei geht es nicht nur um die Liebe von Mann und Frau. Der Film ist eine Hommage an Mutterliebe, aber auch an die Toleranz, die man nicht nur auf den Lippen tragen darf, sondern leben muß. Insofern ist dieser Film, der von einem indischen Regisseur, einem indischen Stab und indischen Schauspielern hergestellt wurde, aber in den USA spielt – und übrigens zu großen Teilen an der Ostsee gedreht wurde -, auch ein Film den man betrachten könnte, wie ’Gullivers Reisen’ oder anderes, denn der Blick auf Amerika kommt von außen. Und von außen sieht man besser. Allerhand also, was dieser erste Bollywood-Film, der nicht in Indien spielt und nicht allein auf einer Liebesgeschichte basiert, leistet. Die Berlinale hat ihm das Tor für unsere Welt geöffnet.
Titel: My name is Khan
Außer Konkurrenz
Land/Jahr: Indien 2010
Regie: Karan Johar
Schauspieler: Shah Rukh Khan, Kajol
Bewertung: * * * *