Das Olympiajahr, nicht die Perspektive der Hauptfigur bestimmt den Titel. Zentrum der Handlung ist nicht das Empfinden Gretels (Karoline Herfurth), sondern ihr Freundschaftsbeziehung zu Marie Ketteler (Sebastian Urzendowsky). Marie war Gretels Konkurrentin im Hochsprung. Und Marie war ein Mann. Um den Olympiasieg einer Jüdin zu verhindern, wurde die unter weiblicher Identität aufgewachsene Marie aufgestellt. Die bizarre, belegte Geschichte ist reich an psychologischer und historischer Dramatik. Um so enttäuschender ist das mittelmäßige Drama “Berlin 36”. Obwohl Lothar Kurzawas Drehbuch Ansätze zu größerem Tiefgang zeigt, lenkt Heidelbach “Berlin 36” in das sichere Fahrwasser altbekannter Handlungsstrukturen. Hans Waldman (Axel Prahl) ist Gretels sympathischer Trainer, den ihre Qualifizierung für die Olympiade den Beruf kostet. Dazu kommen zwei stichelnde Konkurrentinnen Gretels, Thea (Klara Manzel) und Lilly (Julie Engelbrecht). Die psychischen Konflikte der kontroversesten Figur, der zur Teilnahme am Frauenwettkampf gezwungenen Marie, bleiben in “Berlin 36” im Dunkeln. Dabei ist es die gefühlte seelische Gemeinsamkeit, welche beide Freunde werden lässt. Beide fühlen sich als Außenseiter, beide werden durch politischen Druck zur Wettkampfteilnahme gezwungen. Gleichzeitig wollen Gretel und Marie siegen, nicht für Deutschland, sondern sich selbst. Mit der Gegensätzlichkeit dieser Wünsche müssten Marie und Gretel ringen, doch davon zeigt “Berlin 36” nichts. Siegen oder absichtlich verlieren, die Gretchenfrage bleibt Gretel verwehrt. Die Nazis lassen sie nicht antreten, Marie hingegen muss teilnehmen.
Feinheiten klingen an in dem biografischen Drama “Berlin `36“, doch fehlt es Regisseur Kaspar Heidelbach an Gespür, um aus diesen Augenblicken die Emotionen herauszulocken. Der Reichssportführer reicht Gretel bei der Verabschiedung der Olympiateilnehmer nicht die Hand. Ein ehemaliger Schulkamerad, den sie bei einem Sportwettkampf trifft, gibt vor, sie nicht zu erkennen. Intensität entsteht in den Szenen nicht. Schuld an der fehlenden Dramatik ist die Unglaubwürdigkeit der Ereignisse. Unglaubwürdig, dieses Wort klingt unpassend für den auf einer tatsächlichen Begebenheit basierenden Film, in dessen Abschlußszene die echte Gretel Bergmann auf ihre Vergangenheit zurückblickt. Die Oberflächlichkeit der Inszenierung von “Berlin 36” steht einer gefühlten Authentizität im Wege. Die Schikanen der anderen Sportlerinnen gegen Gretel im Trainingslager erscheinen wie Schulmädchengestichel. Der sich abzeichnende tödliche Antisemitismus der dreißiger Jahre sah weniger harmlos aus. Zahm wirken die Drohungen der faschistischen Staatsvertreter. Beim Wettkampf darf sich Gretel nicht vorbereiten, der Vater trägt von den Erpressungen der Nazis eine verbundene Hand davon. Die braune Wolke des Faschismus, die im Olympiajahr über Deutschland hing, hat in Heidelbachs “Berlin 36” Schäfchenform. Nicht einen Moment glaubt man, Sebastian Urzendowsky könne ein Mädchen sein. Der auch schauspielerisch nicht überzeugende Jungdarsteller sieht unverkennbar maskulin aus. Dass die Sportlerinnen und Trainer den jungen Mann nicht als solchen erkennen, dass sich, abgesehen von Gretels Mutter, niemand über die tiefe Stimme wundert, dass der “Damenbart” und Maries Meiden der Frauendusche keinem auffällt, scheint unmöglich.
“Berlin 36” vermag nicht, die Stärken der außergewöhnlichen Thematik zum Ausgleich dieser Schwäche auszuschöpfen. Der Titel “Berlin 36” bewahrheitet sich zum Nachteil. Es geht um Sport, nur marginal spielen Gefühltes und Erlittenes der Charaktere eine Rolle. Enttäuschung, Selbstbehauptung und Selbstzweifel könnten bewegten einst die historische Gretel Bergmann, die vor dem Holocaust mit ihrer Familie in die USA floh und Erinnerungen in dem Buch “Die Angst springt mit” verarbeitete. Vielleicht auch Marie Ketteler, die gezwungen wurde, weiterhin für die deutsche Frauenmannschaft anzutreten. “Berlin 36” ist nicht gänzlich misslungen , doch er vergeudet kaum erinnertes packendes menschliches Drama der Nazijahre. Der große Sprung auf der Leinwand ist nur ein kleiner Schritt in Richtung Vergangenheitsaufarbeitung.
Titel: Berlin 36
Start: 10. September
Regie: Kaspar Heidelbach
Drehbuch: Lothar Kurzawa
Darsteller: Karoline Herfurth, Sebastian Urzendowsky, Axel Prahl, August Zirner, Maria Happel
Verleih: X Verleih