Der große Riss

Kurz vor dem tödlichen Schuss in den Kopf des israelischen Soldaten Elor Azaria auf einen verwundeten und am Boden liegenden Palästinenser in Hebron. Quelle: YouTube, In The Now

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Ich glaube, ich war der erste, der den Vorschlag machte, den Soldaten Elor Azaria, den Killer von Hebron, zu begnadigen.

Aber dieser Vorschlag wurde von mir an mehrere Forderungen geknüpft: erstens, dass der Soldat offen und ohne Bedingung, sein Verbrechen eingesteht, dass er sich entschuldigt und dass er zu vielen Jahren im Gefängnis verurteilt wird.

Ohne diese Bedingungen, jeder Wunsch nach einer Begnadigung des Soldaten würde eine Zustimmung zu seinem Handelns sein und eine Einladung zu noch mehreren solcher Kriegsverbrechen.

Der Unteroffizier Azaria, ein Sanitäter in einer Kampfeinheit, erschien auf der Bühne nachdem ein Anschlag im Zentrum einer jüdischen Enklave in der alten Stadt Hebron begangen wurde. Zwei junge Palästinenser hatten einen Armee-Kontrollpunkt mit Messern angegriffen und wurden erschossen. Wir wissen nicht wie der eine starb, aber der zweite wurde von einer Kamera gefilmt, die den Einheimischen von der wunderbaren israelischen Anti-Besatzungsorganisation B‘Zelem gegeben wurde.

Die Kamera zeigt, dass der Angeschossene schwer verletzt, bewegungslos auf dem Boden liegt und blutet. Dann, etwa zwölf Minuten später, erschien Azaria, der vorher nicht anwesend war, auf dem Bildschirm. Er steht weniger als ein Meter von dem verletzten Araber, schießt ihm aus der Nähe in den Kopf, und verursacht seinen Tod.

Das israelische Fernsehen machte das photographische Material sofort bekannt (eine Tatsache, die nicht vergessen werden darf) und ließ der Armee keine Wahl. In einer zivilisierten Armee ist es ein Verbrechen, einen hilflosen Feind zu töten. Azaria wurde des Totschlags – nicht des Mordes – angeklagt.

Im ganzen politisch rechten Flügel wurde er sofort ein Nationalheld. Die Politiker, einschließlich Benjamin Netanjahu und der gegenwärtige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, eilten, ihn zu verteidigen.

Azaria wurde für schuldig erklärt. In einem scharfen Urteil, stellte das Militärgericht fest, dass seine Zeugenaussage nur aus Lügen bestand.

Das Urteil verursachte einen Sturm des Protestes vom ganzen rechten Flügel. Das Gericht wurde verflucht und wurde der wirkliche Angeklagte. Diesem Sturm ausgeliefert, knickte das Gericht ein und verurteilte Azaria diese Woche zu einer lächerlichen Gefängnisstrafe von 18 Monaten, die übliche Strafe für einen arabischen jugendlichen Steinewerfer, der niemanden getroffen hat.

Azaria hat sich nicht entschuldigt. Weit davon entfernt.

Stattdessen standen seine Familie und seine Bewunderer im Gerichtsaal auf und sangen die Nationalhymne.

Diese Gerichtshof-Szene wurde das Bild des Tages. Es war klar eine Demonstration gegen den Gerichtshof, gegen das Oberkommando der israelischen Armee und gegen die ganze demokratische Struktur des Staates.

Aber für mich war es noch viel, viel mehr.

Es war die Erklärung der Unabhängigkeit eines anderen israelischen Volkes. Es war das Auseinanderbrechen der israelischen Gesellschaft in zwei Teile. Die Spannungen zwischen ihnen sind von Jahr zu Jahr immer akuter geworden.

Die zwei Teile haben immer weniger gemein. Sie nehmen ganz verschiedene Haltungen gegenüber dem Staat ein, seine moralischen Grundlagen, seine Ideologie, seine Struktur. Aber bis jetzt wurde es akzeptiert, dass wenigstens eine fast heilige Institution über der Auseinandersetzung stand, und jenseits jeder Kontraverse: die israelische Armee.

Die Azaria-Affäre demonstriert, dass dieses letzte Symbol der Einheit jetzt grbrochen ist.

Wer sind diese Lager? Was ist das tiefste Element dieser Teilung?

Es gibt keine andere Erklärung: es ist der ethnische Faktor.

Jeder versucht dieser Tatsache auszuweichen. Berge von Euphemismus sind schon errichtet worden, um ihn zu verstecken. Jeder ist ängstlich, ja sogar erschrocken vor den Konsequenzen. Heuchelei ist ein wesentlicher Verteidigungsmechanismus.

Da gibt es jetzt zwei jüdisch-israelische Völker. Sie verachten einander intensiv.

Das eine wird Aschkenazim genannt, ein Abkömmling des alten hebräischen Ausdrucks für Deutschland. Es umfasst alle Israelis mit europäischer und amerikanischer Herkunft, die noch an den alten westlichen Werten festhalten oder so tun als ob.

Die andern sind die Mizrahim (die „östlichen“). Sie sind gewohnt irrtümlicherweise Sepharadim („Spanier“) genannt zu werden, aber nur eine kleine Fraktion von ihnen sind tatsächlich die Abkommen der aus Spanien vor etwa 700 Jahren vertriebenen Juden. Die große Mehrheit der Vertriebenen wählte die muslimischen Länder, statt Europa.

Die Mizrahim-Gemeinde umfasst all die Israelis, deren Familien aus Ländern kommen, die sich zwischen Marokko und dem Iran erstrecken.

Historisch wurden Juden in Europa oft misshandelt und selten in islamischen Ländern. Aber die Ashkenazim sind stolz auf ihr europäisches Erbe (obwohl sie sich tatsächlich immer mehr davon entfremden), während es für die Mizrahim keine schlimmere Beleidigung gibt, als mit den Arabern verglichen zu werden.

Wie ist es zu dem Abgrund gekommen? Die zionistische Bewegung wurde hauptsächlich von den Ashkenazim geschaffen, die vor dem Holocaust die überwiegende Mehrheit der Juden in der Welt waren. Natürlich waren sie auch die Haupt-Schöpfer der neuen zionistischen Gemeinschaft in Palästina, obwohl es auch herausragende Mizrahim- Persönlichkeiten gibt.

Der tiefe Gegensatz begann schon gleich nach den Krieg von 1948. Wie ich schon oft erwähnt habe, war ich einer der ersten, die das voraussahen. Als ich ein Führer einer Gruppe im Krieg war, befehligte ich Freiwillige aus Marokko und anderen Mittelmeerländern. (die übrigens mein Leben retteten, als ich schwer verwundet war). Ich wurde Zeuge des Beginns des Risses und warnte das Land in einer Reihe von Artikeln, die im Jahre 1949 begannen.

Wer war daran schuld? Beide Seiten. Aber die Ashkenazim kontrollierten alle Aspekte des Lebens, ihr Teil der Schuld ist sicher viel größer.

Da sie von zwei großen aber verschiedenen Zivilisationen kamen, war es vielleicht unvermeidbar für die beiden Gemeinden sich bei so vielen Aspekten des Lebens zu unterscheiden. Aber in der damaligen Zeit war jeder von der zionistischen Welt der Mythen verwirrt und nichts wurde gemacht, um dieses Disaster zu vermeiden.

Heutzutage sehen sich die Mizrahim selbst als „das Volk“, die wirklichen (jüdischen) Israelis, die die Ashkenazim als die „Elite“ verachten. Sie glauben auch, dass sie die große Mehrheit sind.

Dies ist ziemlich falsch. Es ist mehr oder weniger ein Graben zwischen zwei gleichen Gemeinden, während die russischen Einwanderer, die ultra-orthodoxen Juden und die arabischen Bürger getrennte Einheiten bilden.

Ein verblüffendes Thema betrifft die Mischehe. Da gibt es eine Menge und einmal glaubte ich, dass sie automatisch den Riss heilen würden. Doch das geschah nicht. Eher schließt sich jedes Paar der einen oder der anderen Gemeinde an .

Die Linien sind nicht klar gezogen. Es gibt viele Mizrahim – Professoren, Mediziner, Architekten und Künstler, die sich den „Eliten“ angeschlossen haben und sich als ein Teil davon fühlen. Viele Ashkenazim- Politiker (besonders im Likud) benehmen sich so , als ob sie zum „Volk“ gehören, und hoffen bei Wahlen mehr Stimmen zu bekommen.

Die Likud-Partei („Vereinigung“) ist schon ein Phänomen. Die überwiegende Masse seiner Mitglieder und der Wähler sind Mizrahim. Tatsächlich ist es die Mizrahim-Partei – par Exellence. Aber beinahe all ihre Führer sind Ashkenazim. Netanjahu benimmt sich als wäre er beides.

Zurück zu Azaria. Öffentliche Meinungsumfragen sagen uns, dass für die große Mehrheit der Mizrahim das Töten eines tödlich verwundeten „Terroristen“ richtig sei. Nach dem Singen im Gericht küsste sein Vater ihn und rief aus: „Du bist ein Held!“ für viele Ashkenazim aber war es ein jämmerlicher Akt von Feigheit.

Ein Opfer der Affäre ist der Stabschef Gadi Eisenkot. Bis vor kurzem war er die populärste Person im Land. Jetzt wird er von den Mizrahim als ein verachtenswerter Diener der Ashkenazi „Elite“ angeklagt, verurteilt oder verflucht. Doch trotz seines so deutsch klingenden Namen, ist er marokkanischer Abstammung.

Er schuf die Armee nicht so, wie sie ist. Er übernahm sie so.

Seit mehr als 40 Jahren hat die Armee keinen wirklichen Krieg geführt und gegen ein wirkliches Militär gekämpft. Es ist zu einer kolonialen Polizeitruppe verkommen, zu einem Instrument eines Systems der Unterdrückung eines anderen Volkes. Im Laufe dieser Pflicht werden täglich viele Akte von Brutalität begangen.

Erst vor kurzem wurde ein unschuldiger arabischer Lehrer, ein Beduine aus Israel, durch Zufall in einen Vorfall verwickelt, als die Polizei mit der lokalen Bevölkerung zusammenstieß. Sie schossen auf den Lehrer in der irrigen Annahme, dass er dabei war, sie zu überfahren.

Der Mann war schwer verletzt und blutete – und rund um ihn die Polizisten. Die Ambulanz wurde nicht gerufen. Er blutete langsam zu Tode. Es dauerte 20 Minuten.

Nur ein Soldat mit höchster menschlicher Qualität, der in einer gesunden menschlichen Familie aufwuchs, kann diesem brutalen Effekt widerstehen. Zum Glück gibt es davon viele.

Ich glaube, dass dort die Lösung liegt. Wir müssen die Besatzung mit allen verfügbaren Mitteln los werden – je schneller, desto besser.

Jeder treue Freund Israels in aller Welt muss uns dazu helfen.

Nur dann können wir uns unseren geistigen und sozialen Ressourcen widmen, um den großen Riss zu flicken. Viele von uns würden dies gerne sein.

Und die Nationalhymne mit klarem Bewusstsein singen.

Anmerkung:

Der Beitrag von Uri Avnery wurde ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 06.03.2017 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim autor.

Vorheriger ArtikelHetzplakate und Hassbanner, Schmähschriften und Gewaltexzesse bedrohen die Fankultur im Fußball – Die Dachorganisationen zeigen wenig Initiative
Nächster ArtikelDas Abendmahl und der Nachtwächter oder Burkheim für Bauch und Bein