Heinrich Kühn (1866 bis 1944) gehört bisher nicht zu den ganz Bekannten, was daran liegt, dass es einmal so viele herausragende Foto-Künstler dieser Zeit gibt und sein Werk verstreut ist, aber auch nicht im modischen Interesse der Zwischenzeiten stand. Er selbst war aber in den Jahren 1885 bis 1915 in sehr vielen Ausstellungen erfolgreich und man nennt ihn denjenigen, der die Kunstfotografie sozusagen erfunden hatte und mit einem Schwung gleich zum Blühen brachte. Das ist ja jedes Mal dasselbe mit der Fotografie und der Malerei in ihrem Streit analog der Paragone Debatte seit dem späten Mittelalter: Wer ist besser? Wer bildet genauer ab? Wo stimmt die Wirklichkeit bis aufs I-Tüpfelchen mit den Bildern überein? Und wenn das bejaht wird, und die eine oder die andere Seite den Zuspruch erhält, dann verfallen die streitenden Künste jäh in ihr Gegenteil. Wenn man die Welt fotografieren kann, wie sie ist, wird es interessanter, den scharfen Blick zu unterlassen und fotografisch das Gegenteil zu unternehmen: nicht die Realität abzulichten, sondern die Atmosphäre, die sie erzeugt, als Fotografie zu erdichten.
Und genau dies hat Heinrich Kühn getan und genau das kann man in der Wiener Ausstellung verfolgen. Da gibt es Blätter, die so zwischen Grau und Grau changieren, daß man sie niemals als Foto durchgehen lassen täte, sondern lieber auf Kreide oder Radierung wetten wollte. Und das nicht nur einmal. Man muss darum den Fotografen Heinrich Kühn, der seit 1888 in Österreich lebte, eigentlich Lichtbildner nennen, denn das, was er an Verwischungen den harten Linien der Realität entzieht, das ergibt neue Linien, die des Lichts, die silhouettenartig die Menschen erscheinen lassen genauso wie Bäume oder Gräser oder das Siegestor in München, aber doch am allerliebsten immer wieder die menschliche Gestalt.
Wenn Kühn als impressionistisch bezeichnet wird, ist das nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Seine schönen Damen mit dem über die Schulter herabgezogenen weißen Rüschenausschnitt und der breiten Hutkrempe, die die Augen verdeckt, war nach dem leicht bigotten Biedermeier (wir sprechen vom offiziellen, nicht dem heimlichen) das weibliche Schönheitsideal der leicht verruchten Dame von Welt. Aber es kann – und ist es auch meistens – durchaus auch sein Kindermädchen Mary Warner sein, die 1907/08 im Kohlfeld mit Strohhut ganz sittsam bedeckt eine weibliche Figur abgibt, wo Mary Poppins nicht weit ist, denn gleich, so glaubt man, wird sie mit ihrem noch zugeklappten Sonnenschirm abheben.
Überhaupt die Amerikaner. Von ihnen hat Kühn viel gelernt und gleichzeitig hat er sie inspiriert. Erst einmal irritieren einen die bunten Bilder. Schließlich ist man das Schwarz-Weiße als Superästhetik so gewöhnt. Die sanft bunten Bilder wie die von Hans aus dem Jahr 1907 (Autochrom) oder auch die unfarbigen von 1906 (Platingummidruck) zeigen Heinrich Kühn als elegischen Kinderfotografen. Da geht von den Kindern etwas Seelisch-Sinnliches aus, was eindeutig der Technik geschuldet ist und wofür man heute einen extremen Weichzeichner benützte. Kühn aber nahm den „Gummidruck“, den er perfektionierte. Damit konnte er die Bildschärfe durch mehrmaliges Drücken auflösen und diese Verwischtheit und Weichheit der Personen und Sachen erzielen, die zudem auch die Perspektive auflöste, denn die Gegenstände und Menschen erscheinen als Fläche und nicht dreidimensional mit Tiefenschärfe.
Es sind wirklich sehr schöne Bilder anzuschauen, aber inmitten der so auf sanft und formschön und still stilisierten Welt schaut uns dann Herta Bahlsen an, ein Platingummidruck auf 29,1 x 21, 7 Zentimeter aus dem Jahr 1911 und aus den Kinderaugen strahlt zwar auch eine gewisse Stilisierung, nämlich wie so ein kleines Mädchen schon ganz genau weiß, wie es sich ins rechte Licht setzt, etwas scheu, aber auch etwas mutig-verwegen, aber der Fotograf, der hat hier gar nichts anderes getan, als im Moment festgehalten, was Ausdruck von Sekunden ist. Das ist ein allerliebstes Porträt und hat mit Wahrheit zu tun. Mit Kunst dagegen und auch Gebrauchskunst und Stilisierung der Akt Mary Warner, eine Platinotypie von 1906, wo eine Nackte von vorne ihre Nacktheit verhüllt durch ihre Haare, die so über den Körper in die Scham gedreht werden, daß es aussieht, wie die berühmte Darstellung von Leda mit dem Schwan, die allerdings, damit der nahsichtige Schenkel auch geheimnisvoll bleibt, von der Seite fotografiert sein muß, während dieser Akt uns von vorne genauso nichts zeigt. Schon eine Kunst.
Bis 29. August 2010 (im Katalog steht 12. September)
Die Ausstellung wandert weiter nach Paris und Houston, da die Forschungsarbeiten von Monika Faber und Astrid Mahler rechtfertigen, daß diese drei Museen ihre Zusammenarbeit über die Kunst um 1900 mit diesem Fotografen fortsetzen.
Katalog: Heinrich Kühn. Die vollkommene Fotografie, hrsg. von Klaus Albrecht Schröder u.a., Hatje Cantz Verlag 2010
Das einzige Buch über Heinrich Kühn, das wir fanden, hat im Jahr 1988 der Residenz Verlag in Salzburg herausgebracht: Text von Ulrich Knapp: Heinrich Kühn. Photographien.
Reiseliteratur:
Felix Czeike, Wien, DuMont Kunstreiseführer, 2005
Baedecker Allianz Reiseführer Wien, o.J.
Lonely Planet. Wien. Deutsche Ausgabe 2007
Walter M. Weiss, Wien, DuMont Reisetaschenbuch, 2007
Marco Polo, Wien 2006
Marco Polo, Wien, Reise-Hörbuch
Ganz neu und in Wien immer sehr gut zu gebrauchen ist von M.P.A.Sheaffer „Jugendstil. Auf den Spuren Otto Wagners in Wien“ aus dem Pichler Verlag. In neun Touren mit der Trambahn, der U- und S-Bahn sowie den Bussen entlang den Werken Wagners in Wien erfahren wir, weshalb der Architekt und Städteplaner Otto Wagner unter so viel guten Architekten und Künstlern des Jugendstils die Übervaterrolle eingenommen hat. Wichtig dabei war und ist seine Affinität zur Technik, denn allzuoft haben Künstler das Technische abgelehnt, statt den zivilisatorischen Nutzen in eine anschaubare Ästhetik zu zwingen. Nein, unsere heutige Plastikunkultur wäre einem Otto Wagner nie eingefallen. Es verband die technische Funktionalität mit der Eleganz der Linie und nicht nur seine Stadtbahnstationen sind dafür ein noch heute sichtbarer Ausdruck. So werden die Wagner-Villa in Hütteldorf, dem XIV. Bezirk besucht und natürlich die Kirche am Steinhof, die weithin sichtbar geblieben ist und der auch Thomas Bernhard literarische Referenz erwies, einfach, weil sie die Kirche der psychiatrischen Anstalten war. Derzeit gilt dem „Chef-Bauzeichner“ Wagners, Joseph Maria Olbrich, eine sensationelle Ausstellung im Leopoldmuseum, in der auch dessen Arbeiten für Wagner eine tiefere Bedeutung erhalten und spezielle Applikationsmotive wie die Sonnenblume – ein Merkzeichen Wagners – nun auf Olbrich zurückgeführt werden. Das tut weder der Bedeutung Wagners, noch diesem Jugendstilführer irgendeinen Abbruch, zeigt aber, wie noch immer alles im Fluß ist. Das Buch ist zweisprachig, linke Seite auf Englisch, rechts das Deutsche und die Fotos bringen das alles ins Eins. Uns gefielen vor allem die praktischen Beschreibungen, wie man wohin kommt, gut.
Tipp: Gute Dienste leistete uns erneut das kleinen Städte-Notizbuch „Wien“ von Moleskine, das wir schon für den früheren Besuch nutzten und wo wir jetzt sofort die selbst notierten Adressen, Telefonnummern und Hinweise finden, die für uns in Wien wichtig wurden. Auch die Stadtpläne und U- und S-Bahnübersichten führen– wenn man sie benutzt – an den richtigen Ort. In der hinteren Klappe verstauen wir Kärtchen und Fahrscheine, von denen wir das letzte Mal schrieben: „ die nun nicht mehr verloren(gehen) und die wichtigsten Ereignisse hat man auch schnell aufgeschrieben, so dass das Büchelchen beides schafft: Festhalten dessen, was war und gut aufbereitete Adressen- und Übersichtsliste für den nächsten Wienaufenthalt.“ Stimmt.
Anreise: Viele Wege führen nach Wien. Wir schafften es auf die Schnelle mit Air Berlin, haben aber auch schon gute Erfahrungen mit den Nachtzügen gemacht; auch tagsüber gibt es nun häufigere und schnellere Bahnverbindungen aus der Bundesrepublik nach Wien.
Aufenthalt: Betten finden Sie überall, obwohl man glaubt, ganz Italien besuche derzeit Wien! Überall sind sie auf Italienisch zu hören, die meist sehr jungen und ungeheuer kulturinteressierten Wienbesucher. Wir kamen perfekt unter in zweien der drei Hiltons in Wien. Sinnvoll ist es, sich die Wien-Karte zuzulegen mitsamt dem Kuponheft, das auch noch ein kleines Übersichtsheft über die Museen und sonstige Möglichkeiten zur Besichtigung in Wien ist, die Sie dann verbilligt wahrnehmen können. Die Touristen-Information finden Sie im 1. Bezirk, Albertinaplatz/Ecke Maysedergasse.
Mit sehr freundlicher Unterstützung von Air Berlin und den Hilton Hotels Wien.