Das hüpfende Parlament – Nicht mit Mike Pence in der Knesset

Knesset
Die Knesset. © Copyright Tourismusministerium, www.go-israel.de

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Vor Jahren, als ich ein Mitglied der Knesset war, entschied ich mich, im Plenum eine Demonstration zu machen.

Ich zog ein T-Shirt mit einem Friedens-Slogan an – „Frieden ist grösser als Gross-Eretz-Israel“ – und in der Mitte der Debatte zog ich meine Jacke aus und zeigte so den Slogan.

Nach wenigen Minuten kam ein Amtsdiener auf mich zu und sagte höflich: „Der Knesset-Vorsitzende würde Sie gerne in seinem Büro sehen.“

Der Vorsitzende war Jitzchak Schamir, ein früherer Kommandeur der terrroristischen Untergrundgruppe Lehi. Er empfing mich mit einem breiten Lächeln, bat mich Platz zu nehmen und sagte: „Uri, Du hast deine Demo gemacht. Jetzt bitte ich dich, das T-Shirt auszuziehen und an deinen Platz zurückzukehren.“ Natürlich tat ich das.

Ich erinnerte mich in dieser Woche an diesen kleinen Vorfall, als etwas viel Ernsteres in der Knesset geschah.

Der amerikanische Vizepräsident ehrte Israel mit einem Besuch und wurde wie ein König empfangen.

Warum? Ich weiß es nicht. Meiner Meinung nach ist er ein gut aussehender und gut gekleideter Tor. Wo immer er hielt, hielt er Reden, die selbst begeisterte Zionisten erröten ließen. Er lobte Israel in Ausdrücken kindischer Lobhudelei, häufte schamloses Geschmeichel über falsche Geschichte an.

Das offizielle Israel war ekstatisch. Keiner erinnerte die Öffentlichkeit, dass die extreme christliche Evangelisation, wie sie von Pence vertreten wird, kein glückliches Ende für Juden hat. Es sagt, dass wenn sich schließlich alle Juden im Heiligen Land versammelt haben, Christus auf die Erde zurückkehren wird und alle Juden zu seiner Religion konvertieren werden. Diejenigen, die es nicht tun, werden verderben.

Der Höhepunkt des Besuches war Pence’s Rede im Knesset-Plenum. Allein dies war seltsam. Solche Ehren werden für ausländische Staatshäupter reserviert. Pence, nur ein Vize, hatte nicht solch ein Recht. Aber die israelische Regierung war darauf aus, dem Mann zu schmeicheln, der vielleicht eines Tages selbst Präsident wird.

Tatsächlich kann ich mir einen einzigen Grund vorstellen, Donald Trump nicht abzusetzen – die erschreckende Idee, dass Pence Präsident werden würde.

Als früheres Knesset-Mitglied wurde ich eingeladen bei dieser Gelegenheit im Plenum zu sitzen. Natürlich habe ich die Ehre abgelehnt. Was folgt, war beschämend.

Als der Vizepräsident anfing, seine Kette von Schmeicheleien zu äußern, sprangen die Knesset-Mitglieder in die Höhe und gaben ihm ein wildes Standing Ovation. Das wiederholten sie immer wieder, auf und ab, auf und ab, und sah lächerlich und abscheulich aus.

Im Gegensatz zum US-Kongress erlaubt die Knesset keinen Applaus. In den 10 Jahren meiner Mitgliedschaft, während der ich an jeder einzelnen Plenarsitzung teilnahm, erinnere ich mich nicht, je Händeklatschen gesehen zu haben, geschweige denn vielfach stehende Ovationen.

Nach der Rede des Gastes haben Vertreter der Parteien das Recht auf Erwiderungen. Alle jüdischen Parteien lobten den amerikanischen Politiker aus ganzem Herzen. Es gab keinen Unterschied zwischen Koalition und Opposition.

Aber die beinahe schändliche Szene kam direkt zum Beginn. Als Pence zu reden begann, standen die Mitglieder der Arabisch Vereinten Liste auf und schwenkten Plakate, die gegen Trumps kürzliche Anerkennung von Jerusalem als die Hauptstadt Israels protestierten.

Die Knesset-Wache schien schon vorher gewarnt worden zu sein: im Split einer Sekunde vertrieb sie die 13 Mitglieder der Liste gewaltsam. Es war ein hässlicher Anblick, der durch den stürmischen Applaus von Seiten der jüdischen Mitglieder noch hässlicher gemacht wurde.

Die vereinigte Liste ist eine Kombination dreier arabischer Parteien mit weit auseinander gehenden Ansichten – Kommunisten, Nationalisten und Islamisten. Sie wurden gezwungen, sich zu vereinen, als die jüdische Mehrheit ein Gesetz mit einer hohen Minimum-Klausel verabschiedete mit der offensichtlichen Absicht, die arabischen Parteien los zu werden, von denen keine eine Chance hatte, die neue Minimum Klausel allein zu überwinden. So stellten sie eine gemeinsame Liste auf und wurden die drittgrößte Knesset-Fraktion.

Die ganze hässliche Szene war völlig überflüssig. Eine Minute später hätte der Parlamentsvorsitzende genau so handeln können wie Schamir mir gegenüber – die arabischen Mitglieder zu bitten sich wieder zu setzen, nachdem sie ihre Ansicht klargemacht hatten. Aber der gegenwärtige Vorsitzende ist kein Shamir. Er war ein zionistischer Aktivist im sowjetischen Russland mit einer völlig anderen Mentalität.

Für die zwei Millionen arabischen Mitbürger Israels und die Millionen Araber in den benachbarten Ländern vermittelte die Szene eine klare Botschaft: die Araber gehören nicht wirklich zum Staat Israel.

Der visuelle Einschlag war unmissverständlich: alle Juden in der Knesset applaudierten der Vertreibung aller Araber. Es war eine klare nationale Teilung, die zeigte, dass die Araber im „Jüdischen Staat“ Fremde sind – obwohl sie die ursprüngliche Bevölkerung des Landes sind – egal wie viele Jahrhunderte sie hier gewesen waren.

Die Teilung ist nicht absolut sauber: die Arabische Liste enthält einen jüdischen Kommunisten, während die meisten jüdischen Fraktionen ein arabisches Mitglied hatten. Der Volksmund nennt sie „Haustier-Araber“.

Das war noch nicht das Ende. Am nächsten Tag verkündigte die Polizei, dass sie im Begriff sei, vorzuschlagen, dass die drei nationalistischen Mitglieder der Vereinten Liste vor Gericht gebracht werden, da sie das Parteien-Finanzgesetz gebrochen hätten.

Da die in der Knesset vertretenden Parteien vom Staat Subventionen erhalten, beschreibt das Gesetz, welch andre Gelder ihnen zu empfangen erlaubt sei. Israelischen Bürgern ist es erlaubt, bis zu einer Höchstsumme zu geben. Spenden aus dem Ausland sind verboten.

Jetzt verkündet die Polizei, dass die arabische National Partei Balad eine große Summe Geldes aus dem Ausland empfangen hat, sie aber mit falschen Dokumenten verborgen hält. Die Untersuchung war enthüllt worden – das benötigte zwei Jahre mit 140 verhörten Personen.

Falls es sich so verhält, warum wurde die Offenlegung genau einen Tag nach dem Knesset-Vorfall gemacht? Die arabischen Bürger und andere waren gezwungen, zu glauben, dass die Offenlegung eine Strafe für das Beleidigen des US-Vizepräsidenten ist.

Wie boshaft! Wie dumm!

Aber Araber sind nicht die schlimmsten Opfer dieser Regierung. Diese Rolle ist für die Afrikaner reserviert.

Schwarze Leute, die aus dem Sudan und Eriträa fliehen, haben uns seit Jahren erreicht, nachdem sie einen langen und schmerzvollen Treck hinter sich brachten und die Grenze zwischen dem Sinai und Israel überquerten. Am Ende baute Israel eine Mauer und stoppte den Flüchtlingsstrom. Aber bevor sich das ereignete, erreichten 36 000 Schwarzafrikaner Tel Aviv, wo sie sich im ärmsten Stadtviertel niederließen und bald mit der einheimischen Bevölkerung in Streit gerieten.

Jetzt hat die israelische Regierung ein geheimes Abkommen mit den Regierungen Burundi und Uganda gemacht – für eine Zahlung pro Kopf nehmen diese Länder die Flüchtlinge auf. Die Opfer selbst werden ein paar Dollar erhalten, wenn sie freiwillig das Land verlassen. Andrerseits werden sie ewig in Israel ins Gefängnis gesperrt.

Die Entscheidung weckte einen Sturm. Es wird gewöhnlich vermutet, dass in diesen afrikanischen Ländern das Leben der Flüchtlinge in Gefahr sein würde, dass sie ausgeraubt, vergewaltigt und getötet werden, dass andere versuchen würden, die europäische Küste zu erreichen und auf dem Weg getötet werden.

Der rassistische Aspekt wurde schmerzlich offensichtlich. Israel ist voller Fremdarbeiter, von Ukrainer bis Chinesen. Die Afrikaner könnten sie leicht ersetzen und ihre Arbeit tun. Aber sie sind schwarz und sie könnten – Gott verbiete – koschere jüdische Mädchen heiraten.

Und plötzlich geschah etwas völlig Unerwartetes: ein moralischer Aufstand. Nach einer wachsenden Flut von Protesten und Artikeln sprechen die Leute mit einer neuen Stimme.

Hunderte von Piloten und andere Crew-Mitglieder riefen alle Luftlinien auf, sich zu weigern, die Flüchtlinge von Israel nach Afrika zu bringen. Viele verkünden, dass sie selbst sich weigern würden, sie zu fliegen. Sie schwören, nicht so zu sein wie die deutschen Lokomotivführer, die die Juden in die Todeslager fuhren.

Eine ältere Frau, ein Flüchtling von solch einem Lager verkündete am TV, dass sie jeden Flüchtling verstecken würde, der ihre Hilfe sucht. Sie rief alle israelischen Frauen auf, dasselbe zu tun und Flüchtlinge auf ihrem Dachboden zu verstecken. Das wäre eine klare Anlehnung an Anne Frank, die mit ihrer Familie in einem Dachboden in Amsterdam während des Holocaust versteckt wurde.

Dies geht jetzt voran – eine wachsende Tide, eine israelische Stimme, die seit langer Zeit nicht zu hören war. Eine Stimme, die so viele Jahre verstummt war, die Stimme meines Israel, die Stimme des gestrigen Israel und hoffentlich des Israels von morgen.

Es gab einmal eine Zeit, als ich stolz sein konnte, Israeli zu sein. Vielleicht kommt diese Zeit wieder.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 28.1.2018 die Erstveröffentlichung unter dem Titel „Das hüpfende Parlament“. Alle Rechte beim Autor.

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