Der verstorbene Yeshayahu Leibowitz, ein praktizierender Jude und resoluter Gegner des religiösen Establishments, pflegte die Taten der Wahabiten zu loben, die radikale Sekte, die vor 200 Jahren den Islam von „Unreinheiten“ säubern wollte. Das erste, was sie nach der Eroberung Mekkas tat, war die Zerstörung des Grabes des Propheten Muhammeds. Die Verehrung von Gräbern war ihrer Meinung nach eine heidnische Abscheulichkeit. Leibowitz lobte diesen Akt und zürnte den religiösen Juden, die „Heilige Stätten“ verehrten.
Damit stand er auf festem biblischem Boden. Im letzten Kapitel der Torah (5.Mos.34) steht: „So starb Moses, der Knecht des Herrn daselbst im Lande Moab .. und er begrub ihn”¦ aber keiner hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag.“ Auch die Autoren der Bibel glaubten, dass die Verehrung von Gräbern eine widerwärtige Gewohnheit von Götzendienern sei.
Im Laufe von Generationen wurden auch die Juden von dieser schlechten Angewohnheit angesteckt. Orthodoxe Juden hielten Gottesdienste am Grab von Rabbi Nachman in der Ukraine und von Rabbi Abu Hatzira in Ägypten. Die Mutation des Judentums, das zu einer Art Staatsreligion in Israel wurde, hat diesen Götzenkult in einen heiligen Kult verwandelt.
Während der ersten Jahre des Staates ging ein Beamter des Religionsministeriums (wie es damals genannt wurde), ein gewisser Shmuel Sanwill Kahane durch das Land und entdeckte rechts und links Heilige Stätten. Er fand Gräber von muslimischen Scheichs und verkündete, dass diese tatsächlich alles Gräber unserer Vorväter seien. Sie wurden zu Heiligen Stätten erklärt und von seinem Ministerium übernommen.
So wurde das Ministerium vergrößert und auch sein Budget, es zog Touristen an und „bewies“, dass Juden in diesem Land tiefe Wurzeln hätten. Säkulare Israelis lächelten spöttisch, und einige religiöse Juden, wie Leibowitz waren wütend.
Aber nach dem Sechs-Tage-Krieg und dem Beginn der Besatzung nahm die Verehrung Heiliger Stätten einen unheimlicheren Charakter an. Sie wurde von den Siedlern instrumentalisiert.
Heilige Stätten zu nützen, um die Eroberung und Massaker zu rechtfertigen, ist keineswegs eine israelische oder jüdische Erfindung.
Eines der abscheulichsten Beispiele ist der erste Kreuzzug. Papst Urban II, rief die Christen Europas auf, sich zu erheben und das Heilige Grab – nicht das Land Palästina, nicht die Stadt Jerusalem, sondern nur einen besonderen Ort zu befreien: das Grab, in dem – nach christlicher Tradition – Jesus vor seiner Auferstehung begraben lag.
Für dieses Grab haben Tausende von Christen enorme Entfernungen bis Jerusalem zurückgelegt, haben unterwegs Massen von Leuten (meist Juden) ermordet und nach der Eroberung der Stadt ein entsetzliches Massaker angerichtet. Nach christlichen Chroniken hätten sie knietief in Blut gewatet. Die Opfer waren Muslime und Juden, Männer, Frauen und Kinder.
Aber wir müssen keine 911 Jahre zurückgehen, um fanatische oder zynische Führer zu finden, die sog. Heilige Stätten benützten, um monströse Taten zu rechtfertigen. Als Slobodan Milosevic die ethnische Säuberung des Kosovo durchführte – einen Genozid – war seine zentrale Behauptung, dass das Land für die Serben heilig sei.
Und tatsächlich fand 1389 dort eine historische Schlacht statt. Die christlichen Serben wurden von den ottomanischen Muslimen geschlagen, und diese beherrschten während der nächsten 600 Jahre das Land. Während dieser Zeit nahm die lokale Bevölkerung freiwillig den Islam an. Aber die Serben machten aus dem Schlachtfeld eine Heilige Stätte – ein seltenes Beispiel, dass ein Volk seine Niederlage feierte (wie die Juden auf Massada)
Wenn Binyamin Netanyahus Lieblingsausdruck – „Der Felsen unserer Existenz“ – in Serbien existieren würde, dann hätte Milosevic ihn sicher verwendet. Er behauptete, dass das Kosovo das spirituelle und religiöse Zentrum des serbischen Volkes sei, trotz der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit seiner Bewohner jetzt albanische Muslime sind. Bis zum heutigen Tag erkennt Serbien den unabhängigen Staat Kosovo nicht an, weil dort die alten serbischen Kirchen und Klöster stehen.
Und hier? Seit Beginn der Besatzung dienen die „Heiligen Stätten“ in der Westbank als Waffen in den Händen der Siedler. Sie gehen dorthin, um die jüdische Herrschaft über die Heiligen Orte des Judentums wieder herzustellen, um Gottes Geboten zu gehorchen, sagen sie.
Die Geschichten der Bibel spielen sich meistens in diesen Gebieten ab. Die Siedler und die israelische Armee nennen sie „Judäa und Samaria“. Ortsnamen sind Akte der Annexion. Sie bestätigen den Besitz des jüdischen Volkes aus alten Zeiten (In den 50ern hat der britische Historiker Steven Runciman, ein führender Experte der Kreuzzüge, meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass die Namen irgendwie verdreht worden sind: Die Israelis leben im Land der Philister – von dem der Name Palästina abgeleitet ist – während die Palästinenser in dem Land leben, das das alte Königreich Israels war.
Die erste Siedlung wurde von einer Gruppe religiöser Leute gegründet, die mittels einer Täuschung nach Hebron gingen. Da der israelische Militärgouverneur Juden verboten hatte, die Stadt zu betreten, baten sie um Erlaubnis, dort ein paar Tage zu bleiben, um ihre Pessachgebete in der heiligen Stadt zu verrichten.
Seitdem ist die „Höhle von Machpela“ in Hebron zu einem heiligen Schlachtfeld geworden. Nahebei haben sich die extremsten jüdischen Siedler eingerichtet. Sie sind fanatische Araberhasser, und sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die 160 000 Araber, deren Familien seit Generationen dort leben, zu vertreiben. Der verrufenste Massenmörder unter den Siedlern, der Arzt Baruch Goldstein, massakrierte 29 betende Muslime in der Ibrahims-Moschee, um die Heilige Stätte zu „reinigen“.
Heilige Stätten dienen nun als Rechtfertigung für die Raubexpeditionen, die man Siedlungen nennt. Landstücke werden überall in den besetzten Gebieten gestohlen – wegen ihrer Heiligkeit. Die extremsten Siedlerführer, die alle „Rabbiner“ sind, kämpfen für die Befreiung der Gräber. Einer von ihnen führt einen Kreuzzug an (oder eher einen Davidssternzug), um „das Josephsgrab“ mitten in Nablus in Besitz zu nehmen. Das würde Nablus in ein zweites Hebron verwandeln. Die israelische Armee befördert die Siedler in gepanzerten Fahrzeugen dorthin, damit sie dort „beten“ können.
Aber nicht nur „Vorväter der Nation“ verdienen heilige Gräber, auf denen Blut vergossen werden kann. Jede zweite Gestalt in der Bibel kann eines bekommen und so ein Ziel für Siedler werden. Im Augenblick wütet eine Schlacht um das „Grab von Othniel“, der den Namen Othniel, Sohn von Kenaz trägt, eine vage biblische Gestalt. Die muslimischen Bewohner von Hebron glauben, dass es das Grab des Gründers ihrer Stadt sei.
Vor wenigen Tagen fielen Siedler in eine alte Synagoge in Jericho ein, die von Muslimen seit Generationen bewahrt worden war. Juden hatten kein Problem, friedlich dorthin zu gehen – die Stadtverwaltung Jerichos, ein Teil der palästinensischen Behörde, hat alle Juden dort zum Gebet hingelassen. Aber die Siedler wollten nicht zum Beten kommen. Sie wollten erobern.
Das erinnert mich an eine andere Prophetie von Yeshayahu Leibowitz über Jericho. Die Siedler würden auch das Grab von Rahab, der Hure, in Jericho heiligen. Diese Heldin der Bibel (Josua 2), die Hure, die ihre Stadt betrog und den Eindringlingen half, sie zu erobern, und die dann alle Bewohner umbrachten, verdient sicherlich die Verehrung der Siedler.
Es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass die Verehrung dieser heiligen Stätten offenkundig absurd ist. Es gibt kein einziges Grab im Land, das ernsthaft mit einer biblischen Gestalt – real oder eingebildet – in Verbindung gebracht werden kann. Die meisten heiligen Gräber gehören lokalen arabischen Scheichs, von denen wegen ihrer Rechtschaffenheit angenommen wird, dass sie in der Lage seien, Vermittler zu Allah zu sein. Die Örtlichkeit der meisten Heiligen Stätten – einschließlich des christlichen „Heiligen Grabes“ ist sehr zweifelhaft – vorsichtig ausgedrückt.
Das stimmt auch für die beiden Orte, wo in letzter Zeit blutige Aufstände ausgebrochen sind: Das Rachelgrab in Bethlehem und die Höhle von Machpela in Hebron.
Dies ist nicht der Ort zu fragen, ob „unsere Mutter Rachel“ eine der attraktivsten Bibelgestalten, in das Reich der Legende oder der Geschichte gehört. Aber sogar nach der Legende wurde sie nicht an der Stelle beerdigt, die ihren Namen trägt. Viele der Bibelexperten (von denen, die glauben, dass sie wirklich existierte) denken, dass sie nördlich und nicht südlich von Jerusalem begraben wurde. Es ist muslimische Tradition, die ihr Grab in den isolierten, bescheidenen Bau setzte, der auf Briefmarken Palästinas in der britischen Mandatszeit erscheint. Viele Generationen muslimischer, jüdischer und christlicher Frauen haben dort gebetet und baten Rachel darum, sie mit Kindern zu segnen. Dieser Kuppelbau kann nicht mehr gesehen werden: die Armee hat ihn mit einem Festungswall und Toren umgeben, so dass er jetzt bedrohlich aussieht, eine hässliche Kopie einer Kreuzfahrerburg.
Das Gebäude in Hebron, bekannt als Machpela-Höhle – tatsächlich aber gar keine Höhle – ist auch von der Muslimtradition bewahrt worden, die es Ibrahims-Moschee nennt. Viele Bibelexperten, die die Geschichte von Abraham nicht als Legende abtun, glauben, dass die Höhle an einer anderen Stelle liegt. Aber an dieser Stelle ist viel Blut vergossen worden.
In dieser Woche fanden an beiden „Heiligen Stätten“ Zusammenstöße statt. Sie waren durch Netanyahus Entscheidung verursacht worden, sie auf eine Liste von Stätten jüdischen „Kulturerbes “ zu setzen, die von der israelischen Regierung saniert werden sollen. Da aber beide auch für Muslime, Juden und Christen heilig sind, ist dieser einseitige Akt nichts anderes als eine Enteignung und eine offensichtliche Provokation. Falls wirklich der Wunsch bestehen sollte, diese Stätte zu renovieren, dann hätte dies in einem gemeinsamen Komitee der Vertreter beider Völker und aller drei Religionen erreicht werden können.
Vor Jahren wurde ich von dem inzwischen verstorbenen Bürgermeister von Florenz Giorgo la Pira eingeladen, am gemeinsamen Gebet eines katholischen Priesters, eines muslimischen Scheichs und eines jüdischen Rabbiners in der Machpela-Höhle teilzunehmen . Obwohl ich ein eingeschworener Atheist bin, ging ich hin. Damals ging mir durch den Kopf, dass solch eine Stätte sehr wohl als Symbol der Bruderschaft für beide Völker des Landes dienen könnte.
Gemeinsame Liebe für das Land, einschließlich all seiner Perioden und Stätten – heilig oder nicht – könnten als spirituelle Basis für Frieden und Versöhnung dienen. Sogar jetzt hoffe ich, dass der Tag kommt, dass die Schulkinder beider Staaten, Israel und Palästina, die Annalen dieses Landes in all seinen Perioden kennen lernen werden und nicht nur die jüdische Geschichte hier und die muslimisch-arabische Geschichte dort: der wunderbare Reichtum der Geschichte dieses Landes von der Zeit der Kanaaniter bis zum heutigen Tag könnte ein starkes Band knüpfen.
Doch die Absichten Netanyahus und seiner Siedler sind genau das Gegenteil: die Geschichte in ein Instrument der Besatzung zu verwandeln und das Grab der Hure mit Siedlungen zu umgeben.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Erstveröffentlicht wurde der Beitrag unter www.uri-avnery.de am 06.03.2010. Alle Rechte beim Autor.