Das Draghi-Papier – Serie: Griff nach der Staatsmacht (Teil 1/2)

Mario Draghi ineiner Fotomontage mit hohen Häusern in Bankfurt. Quelle: Pixabay, Foto: Harri Vick

Berlin, BRD (Weltexpress). Der Italiener Mario Draghi ist einer derjenigen, die die Zentralisierung der EU stetig weiter vorantreiben. Der unter seiner Ägide erstellte Bericht „Die Zukunft europäischer Wettbewerbsfähigkeit“ ist gewissermaßen der Speiseplan der kommenden Entwicklungen.

Wenn versucht wird, größere politische Veränderungen durchzusetzen, erfolgt das in den letzten Jahren immer nach dem gleichen Schema: erst gibt es irgendwelche, sich unschuldig wissenschaftlich gebende Papiere, die dann kurz in der Öffentlichkeit auftauchen, mit einer relativ oberflächlichen Behandlung. Dann, mit einigem Zeitabstand, tauchen einzelne Aspekte daraus wieder auf, dann schon in Gestalt einer politischen „Debatte“. Und zuletzt wird das Ganze umgesetzt, wobei zu diesem Zeitpunkt der Inhalt des Papiers bereits als „wissenschaftlich“ gilt.

Der Draghi-Report, der im September veröffentlicht wurde, befindet sich gerade auf der zweiten Stufe, die Vorstellungen, die darin enthalten sind, werden in die Öffentlichkeit geschoben, wenn auch vorerst noch in Medien wie der Financial Times. Aber die Verbreitung in popularisierter Form, mit der davor gesetzten Behauptung „wir müssen“ wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Tatsache, dass die beiden zentralen EU-Länder Frankreich und Deutschland politisch wie ökonomisch deutlich geschwächt sind, bietet eine allzu gute Gelegenheit für die Brüsseler Pläne.

Auch wenn Friedrich Merz, der wohl ab 2025 den Bundeskanzler geben dürfte, sich noch im September gegen EU-Bonds ausgesprochen hatte, die Teil der Draghi-Pläne sind, einige andere Punkte dürfte er gerne unterschreiben; sein Widerstand gegen eine weitere Entwicklung der EU in Richtung eines europäischen Staatsapparats ist eben kein prinzipieller. Schließlich hat er selbst zwei der Stichworte aus dem Draghi-Papier aufgegriffen – Europa wettbewerbsfähiger zu machen und den Binnenmarkt zu vereinheitlichen. Und beim EU-Gipfel vor wenigen Tagen in Budapest waren die Ergebnisse dieses Berichts ebenfalls Thema.

Der Report, der unter Leitung des italienischen ehemaligen EZB-Chefs erstellt wurde, trägt den Titel „Die Zukunft europäischer Wettbewerbsfähigkeit“ und soll eine „Strategie für Europa“ liefern. Soweit überhaupt bisher darauf eingegangen wurde, beschäftigte sich das mit den vorgeschlagenen Schlussfolgerungen; aber das wirkliche Problem mit diesem Bericht liegt in den Vorstellungen, von denen die Überlegungen ausgehen.

Ein kleines Beispiel: es wird ausführlich beklagt, dass die hohen Energiepreise in Europa die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie beeinträchtigen. Dabei wird – das ist man ja aus der europäischen Presse schon so gewöhnt – so getan, als wäre diese Entwicklung vom Himmel gefallen. Bezogen auf die russischen Erdgaslieferungen steht dort etwa: „Aber diese Quelle relativ güstiger Energie ist nun, unter enormen Kosten für Europa, verschwunden. Die EU hat mehr als ein Jahr Wachstum des GDP verloren und musste dabei enorme fiskalische Ressourcen in Subventionen für Energie und den Bau neuer Infrastruktur für den Import von LNG-Gas umlenken.“

Womit die EU selbst natürlich rein gar nichts zu tun hat; ebensowenig wie mit dieser hübschen Grafik zur Volatilität von Erdgaspreisen:

Volatilität des ErdgaspreisesEU-Kommission, Draghi-Report

Wie man sehen kann, die Ausschläge hielten sich bis weit ins Jahr 2019 in Grenzen. Und dann werden sie größer. Die Voraussetzungen dafür wurden allerdings im Jahr 2011 geschaffen – durch die EU, durch die Einführung des Spotmarkts für Erdgas, der, das ist nun einmal das Wesen derartiger Märkte, jede Form krisenhafter Entwicklung vervielfacht, die sich andernfalls, bei den klassischen langfristigen Verträgen, wenn überhaupt nur mit großer Verzögerung abgebildet hätte.

Das ist schon der erste Punkt, den man wissen muss, und er taucht im Zusammenhang mit diesem Bericht immer wieder auf – was auch immer die Konsequenz des Handelns der EU selber ist, wird, selbst wenn die Ergebnisse kritisiert werden, nie als solches benannt. Denn die Option, irgendeine dieser Entwicklungen umzukehren oder die erkannten Fehler zu korrigieren, wird nie auch nur gedacht, und soll auch vom Leser nicht gedacht werden.

Und dann gibt es die Grundbedingungen, von denen alle Überlegungen ausgehen. Die erste ist, dass die europäische Wirtschaft unbedingt im Wettbewerb mit den USA und China bestehen müsse. Wobei auch diese Überlegung inkonsequent umgesetzt wird, denn falls beide gleichermaßen Konkurrenten sind, müsste man sich bei beiden die gleichen Sorgen machen. Aber es gibt ja durchaus andere Konzepte globaler Wirtschaftsbeziehungen; die berühmte Vorstellung von wechselseitig vorteilhaften Beziehungen ist bis in die EU allerdings noch nicht vorgedrungen.

Die nächste Grundvorstellung, die an entscheidenden Stellen deutlich in die falsche Richtung führt, ist die, das GDP der Vereinigten Staaten so zu akzeptieren, wie es da steht. Es gibt eine einzige Stelle, beim Vergleich der Entwicklung des GDP in den USA und in Europa, an dem zumindest auch ein Vergleich nach Kaufkraftparität stattfindet; wobei dadurch statt eines Abstands von 30 Prozent nur noch ein Abstand von 12 Prozent besteht.

Das ist schon allein deshalb problematisch, weil ein zentrales Argument des Berichts lautet, Europa sei in der Entwicklung der Produktivität hinter die USA zurückgefallen, bei dieser „Produktivität“ aber auch Immobilien- und Finanzmarkt mitgezählt werden, was dann, welch Überraschung, zu der Forderung führt, wieder zu deregulieren; es sich dabei aber um Tätigkeiten handelt, die wenig mit der Realwirtschaft zu tun haben. Ebenso wenig wie das, was ein weiteres Hauptargument ist: „Nur vier der führenden 50 Technologieunternehmen sind europäisch, und die globale Position der EU in Technologie hat sich von 2013 bis 2023 verschlechtert, ihr Anteil am globalen Technologieertrag fiel von 22 Prozent auf 18 Prozent, während der Anteil der USA von 30 Prozent auf 38 Prozent stieg.“

Dazu gehören natürlich die berühmten IT-Unternehmen wie Google, Meta und Amazon; aber deren vermeintlicher Unternehmenswert, der ebenfalls als Argument für den europäischen Rückstand angeführt wird, beruht darauf, dass sie den Staubsauger bilden, der all die von der FED geschaffene Liquidität aufsaugt. Sicher, im Allgemeinen wird immer so getan, als redeten wir hier von realen Werten; letzten Endes beruhen sie aber auf der Fähigkeit der USA, Geld nach Belieben aus dem Nichts zu schaffen, die wiederum ihre Grundlage in genau jener politisch-militärischen Hegemonie hat, die gerade zerfällt. Es ist vor allem diese Eigenschaft, die die EU vielleicht gerne für sich beanspruchen würde, aber nicht kann.

Was sich natürlich auch bei einem weiteren Kernargument bemerkbar macht: „Langsameres Produktivitätswachstum wiederum wird mit dem langsameren Anstieg der Einkommen und schwächerer Binnennachfrage in Europa assoziiert: pro Kopf berechnet, ist das Einkommens seit 2000 in den USA beinahe doppelt so stark gewachsen wie in der EU.“

Bezogen auf die Lebensgrundlage der breiten Bevölkerung ist das reiner Unfug. Denn wenn es eines gibt, in dem die EU und die USA sich fast identisch entwickeln, dann darin, dass Einkommenszuwächse maximal die obersten 10 Prozent der Bevölkerung erreichen, aber vor allem an das oberste Promille gingen; die normale Bevölkerung aber weitgehend leer ausgeht.

Ein Detail, das in Bezug auf Innovation höchst auffällig ist, wenn man die industriepolitische Debatte vor mehr als einem Jahrzehnt im Blick hat, ist, dass das damals dominante Konzept vollautomatisierter Produktion, bekannt unter dem Schlagwort Industrie 4.0, so gut wie nirgends umgesetzt wurde. In der dafür erforderlichen Technik, der Robotik, sind EU-Länder bis heute führend.

Aber wer die entsprechenden Studien der UN gelesen hat, die damals veröffentlicht wurden, weiß auch, warum an dieser Stelle, die eigentlich einen Kernbereich von Innovation betrifft, nichts passiert ist: die Prognosen lauteten auf 50 Prozent weniger Arbeitsplätze in den Industrie- und 80 Prozent weniger in den Entwicklungsländern. Weil dadurch die produzierten Waren nicht mehr absetzbar wären, ist an diesem Punkt seitdem Stillstand angesagt. Der Draghi-Bericht weiß davon nichts.

Interessant ist, dass ein Mangel an Industriepolitik beklagt wird. Das ist tatsächlich ein Umschwung – ohne dass er als solcher erwähnt wird. Als Ziel der EU galt bisher der maximale Wettbewerb zwischen den einzelnen Mitgliedsländern, und im Interesse eben dieses Wettbewerbs wurden viele Dinge untersagt, die klassische Industriepolitik im Sinne einer gezielten Industrieentwicklung ausgemacht haben. Von Zollpolitik muss man gar nicht erst reden (obwohl mit politischen Ausreden seit einigen Jahren wieder allerlei Schutzzölle eingeführt werden, seit die westliche Dominanz abnimmt); aber auch Industrieförderung über Bildung, Forschung und staatliche Nachfrage wurde gerade durch die Wettbewerbsvorgaben der EU auf staatlicher Ebene geradezu sabotiert.

Ebenso, wie die Probleme, die der Bericht auf der Ebene der Infrastruktur feststellt, auch ein Ergebnis der Privatisierungen sind, die auch Teil der EU-Ideologie sind: „Die EU fällt zurück in der Bereitstellung modernster Infrastruktur, die nötig ist, um die Digitalisierung der Wirtschaft zu ermöglichen.“

In Momenten technologischer Umbrüche, wie dem Bedarf nach hochleistungsfähigen Datennetzen, ist es weit eher als zwanzig konkurrierende Privatunternehmen der staatliche Monopolist, der für den nächsten technologischen Schritt sorgen kann. Nicht umsonst waren die großen Netzentwicklungen der Vergangenheit, ob Eisenbahn oder Strom und Straße, Motoren von Verstaatlichung und nicht von Privatisierung.

Nun stellt also ein Bericht im Auftrag der EU-Kommission fest, dass Europa hier an einigen Punkten hintendran ist, aber dreht diese Tatsache sofort in eine ganz andere Richtung: um dieses Problem zu lösen, brauche die EU unbedingt wesentlich mehr Macht und Geld.

Dabei wird die weitreichendste der Vorbedingungen sichtbar: der gesamte Wirtschaftsraum der EU wird betrachtet, als handele es sich dabei tatsächlich um einen einzigen Staat. Was, selbst wenn man die äußerst hässlichen Nebenwirkungen übergeht, die eine Entwicklung der EU zu eigener Staatlichkeit anstelle der Nationalstaaten mit sich brächte, noch auf ein ein weiteres kleines Problem stößt – die Wirklichkeit ist nicht so.

Allein eine gemeinsame Zollgrenze und in Teilen eine gemeinsame Währung ergeben noch lange keine wirtschaftliche Einheit; und wenn man die Forderung aufstellt, genau auf eine derartige wirtschaftliche Einheit zu zielen, sollte man zuvor die Frage zulassen, zu welchem Zweck? Weil man in einer von Kolonialismus beherrschten Welt entweder Kolonialherr ist oder Kolonie? Und ist die geopolitische Imitation der klassischen Comicfigur Isnogud („Ich will Kalif sein anstelle des Kalifen“) wirklich eine sinnvolle ökonomische Perspektive für die Menschen Europas?

„Industrielle Strategien heute kombinieren – wie man an den USA und China sehen kann – viele Ebenen der Politik und reichen von Steuerpolitik, um heimische Produktion zu ermutigen, über Handelspolitik, um wettbewerbswidriges Verhalten zu strafen, bis zur Wirtschaftsaußenpolitik, um Lieferketten zu sichern. (…) Im Kontext der EU erfordert es eines hohen Grads der Koordination zwischen den nationalen und den EU-Bemühungen, um diese Verbindung der politischen Ebenen zu erreichen. Aber aufgrund ihres langsamen und zergliederten politischen Entscheidungsprozesses ist die EU weniger im Stande, eine solche Antwort zu liefern.“

Dieses Argument kann man auch als eine ganz simple Erpressung zusammenfassen: schluckt den von uns angestrebten EU-Metastaat oder geht wirtschaftlich unter. Schließlich ist der entscheidende Unterschied zwischen China, den USA und der EU, dass die beiden ersten Staaten sind, wenn auch die historische Zeitspanne bei den USA vergleichsweise kurz ist – die EU allerdings keiner ist. Und selbst wenn die Brüsseler Bürokratie mit ihrem Streben den Willen der europäischen Bevölkerung erfüllte, statt ihre Krönungswünsche gegen deren Widerstand durchzusetzen, selbst wenn formal gesehen, unter Zuhilfenahme eines konstruierten externen Feindes, daraus technisch betrachtet ein Staat würde, wäre das dennoch nicht mit einer bereits etablierten Staatlichkeit vergleichbar.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde unter dem Titel „EU: Griff nach der Staatsmacht über die Industriepolitik – Teil 1“ am 16.11.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

Siehe auch die Beiträge

im WELTEXPRESS.

Anzeige:

Reisen aller Art, aber nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert und mit Persönlichkeiten – auch Reisen durch Staaten die bei der EU-Bürokratur mitmachen –, bietet Retroreisen an. Bei Retroreisen wird kein Etikettenschwindel betrieben, sondern die Begriffe Sustainability, Fair Travel und Slow Food werden großgeschrieben.

Vorheriger ArtikelKreml: Die scheidende VS-Regierung heizt den Ukraine-Konflikt an