Wien, Österreich (Weltexpress). Als ich vor drei Wochen von Wien nach London flog, schlossen sich hinter mir buchstäblich die Türen: Die Opernhäuser und Theater, sämtliche Museen und die meisten Geschäfte sperrten zu, dann kamen in Österreich das Ausgehverbot, die Selbstisolation, die Ankündigung einer Maskenpflicht in Lebensmittelgeschäften – doch dies alles erfuhr ich erst aus den Medien, denn jetzt war ich ja in England. Und hier gab es – nichts. Vorerst. Doch, etwas gab es: Der Premierminister wusch sich, mit noch wirrerem Blondschopf als sonst, vor laufenden Kameras die Hände.
Dazu sang Boris Johnson «Happy Birthday». Zwei Mal. Das dauerte genau zwanzig Sekunden. Und dies verordnete er der ganzen Nation – als damals einzige Massnahme im Kampf gegen Sars-CoV-2. Denn zwanzig Sekunden solle man, so empfiehlt es die Royal Pharmaceutical Society, die Hände waschen, um das Virus verlässlich zu beseitigen.
Direkt in den Gebärsaal
Johnson und seinen Gesundheitsminister hat’s mittlerweile dennoch erwischt, den Thronfolger auch. Das kühne Projekt «Herdenimmunität» ist längst begraben, die Strassen sind wie leergefegt. Dass Prinz Charles mit «milden Symptomen» einen der begehrten Tests erhielt, die «key workers» vorbehalten sind, und dann samt Gattin Camilla zum schottischen Schloss Balmoral geflogen wurde, unmittelbar bevor die Regierung die Flucht aufs Land untersagte, hat weiter an den Säulen der Monarchie gesägt.
Immerhin darf man festhalten, dass die berühmteste Handwaschszene der Weltliteratur ebenfalls aus dem Königreich stammt. Und natürlich kommt sie von Shakespeare. Lady Macbeth vermeint in ihrem Wahn nach dem Königsmord an Duncan, das vergossene Blut von ihren Händen zu waschen. Doch ach: «Alle Wohlgerüche Arabiens können diese kleine Hand nicht säubern.»
Das Händewaschen als Schutz gegen Bakterien (und Viren!) hat hingegen ein Wiener Arzt erfunden: Ignaz Semmelweis, geboren 1818 im ungarischen Buda. Als Chirurg und Geburtshelfer arbeitete er im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Er entdeckte, dass die extrem hohe Sterberate beim Kindbettfieber darauf zurückzuführen war, dass Ärzte und Medizinstudenten direkt von Leichensektionen in den Gebärsaal kamen, meist, ohne sich die Hände zu waschen, geschweige denn, sie zu desinfizieren. Die Übertragung von Bakterien war damals schlicht noch nicht bekannt.
Semmelweis wies seine Studenten an, Hände und Instrumente nach Sektionen und vor Untersuchungen zu desinfizieren – was die Sterblichkeit sofort rapide senkte. Semmelweis wurde diese lebensrettende Erkenntnis freilich nicht gedankt. Die (mehrheitlich aus der Wiener Oberschicht stammenden) Kollegen fühlten sich angegriffen. Semmelweis wurde von den Medizinern als «Nestbeschmutzer» angefeindet. Es ist zu vermuten, dass auch antisemitische Motive dabei eine nicht geringe Rolle spielten.
Ungehörter Prophet
Nach Konfrontationen mit der Ärzteschaft erkrankte Semmelweis an schweren Depressionen und wurde 1865 in die Niederösterreichische Landesirrenanstalt in Wien-Alsergrund eingeliefert. Hier starb er zwei Wochen später – an einer Sepsis, offenbar verursacht durch offene Wunden, die er sich in einer verschmutzten Zwangsjacke zugezogen hatte. Dass die jüdische Vorschrift des rituellen Händewaschens vor den Mahlzeiten die revolutionären Erkenntnisse von Ignaz Semmelweis beeinflusst hat, ist zwar nicht verbrieft, aber sehr wohl vorstellbar. Denkbar ist auch, dass das Schicksal von Semmelweis Modell für Arthur Schnitzlers «Professor Bernhardi» war, der unter antisemitischen Anfeindungen zu leiden hatte.
Dass viele Juden im Mittelalter nicht Opfer der Pest geworden sind, dürfte sehr wohl auf ihre religiösen Hygieneregeln zurückzuführen sein. Semmelweis wurde ebenso ein Opfer der Ignoranz wie die Juden des Mittelalters. Bekanntlich war ihnen unterstellt worden, Brunnen vergiftet und die Pest gebracht zu haben. Die Folge waren blutige Pogrome.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Charles Ritterband wurde unter dem Titel „Hygiene: Besseres Wissen hat noch keinem geschadet – Boris Johnsons «Happy Birthday» und die kuriose Geschichte des Händewaschens“ in „NZZ“ am 5.4.2020 erstveröffentlicht.