Da kann man nur neidisch werden, wie Aravind Adiga mit ein paar Sätzen die innere Wirklichkeit eines indischen Proletarierkindes, seine Hoffnungen und Ängste aufs Papier zaubert, die Außenwelt mit zwielichtigen Erwachsenen, versoffenen Vätern, reichen Schickimicki-Damen dazu tut, Fahrrädern, Rikschas, Automobilschlitten, Bus und Straßenbahnen durch die indische Bezirksstadt fahren läßt, auf dem Markt die Gerüche von Gebratenem, die vom Gemüse und dem überreifen Obst uns riechen läßt, dann aber herb die Kanalisation dagegen setzt und dazu auch noch eine architektonische Stadtgeschichte mitlaufen läßt und unser Wissen um das Kastenwesen in Indien vertieft, auch noch eine Sprachanalyse mithineinrührt, mit witzigen Sexszenen pfeffert, die Alten genauso zu Wort kommen läßt wie die Jungen – wobei die Männerdominanz der handelnden Personen schon auffällt -, mit dem ständigen Wechsel von menschlichen Geldsäcken und gesellschaftlicher Oberschicht gegenüber den Dirnen vom Land und den naiven Buben das Ganze herumrührt und uns so ein scharfes, würziges, lieblich duftendes und bitter nachschmeckendes Curry angerichtet hat, an dem wir lange zu essen haben und noch sehr viel länger zu verdauen.
Denn sagen wir es gleich, dies ist ein Buch von enormer Tiefe und einer Wissensvermittlung über eine Gesellschaft, von der wir außer oberflächlichen Begriffen nicht viel wissen. War Indien ob der lockeren und provokanten Aufstiegssaga des Helden im „Der weiße Tiger“ schon geschockt, wie muß dies erst bei „Zwischen den Attentaten“ sein mit seiner schonungslosen und vernichtenden Analyse der Lebensbedingungen der unteren Klassen, die es ja auch im Westen gibt, die aber in der indischen Form des Kastenwesens eine noch trennendere und vom Himmel geschützte, weil so vorgesehene Funktion erhalten, und zwar unabhängig davon, ob diese Inder Hinduisten, Moslems oder sogar Christen sind. Die witzigen und skurrilen Typen, die wir kennenlernen, machen das Buch leichter und farbiger als es die sozialen und individuellen Verhältnisse eigentlich möglich machen. Von daher gelingt Adiga eine Sittenschilderung, wie sie Charles Dickens für das 19. Jahrhundert in England schuf, nur eben komischer, ja unterhaltsam geradezu, obwohl einem das Lachen immer wieder prompt im Hals stecken bleibt.
Das Buch ist ordentlich gegliedert und führt uns an der Hand die Woche entlang durch Kittur. Wir kommen in jedes Haus und lernen die wichtigen Menschen genauso kennen wie die unwichtigen. Vor allem aber wird jedes neue Kapitel mit einer Mischung aus Reiseführer, Kulturgeschichte, Architekturwesen und statistischer Volkserhebung eingeleitet, auf das dann das pralle Leben der nächsten Seiten prallt. Da kamen wir oft in Schleudern. „Ich bin ein Paschtune!“ schrie Ziauddin zurück“ (Seite 15), und das schreit der Junge immer, wenn er seine moralische und muslimische Überlegenheit gegenüber dem gemeinen und hinduistischen Inder zum Ausdruck bringen will. Paschtunen, ja das sind die, die wir heute Afghanen nennen und eigentlich aus dem Ostiran kommen und in ganz Asien verbreitet sind. Aber die Hoykas? So benennt Adiga die meisten seiner Helden, die aus der untersten Schicht stammen, die aber im indischen Kastensystem eine andere Nomenklatur besitzen, während ihr Pendant, die Herrschaftsschicht auch hier Brahmanen genannt werden und ein psychologisch exquisites Porträt von Jaymma, einer Brahmanin, dann aber zeigt, daß auch diese als Dienstbote unter miesen Bedingungen arbeiten muß, was sie nur aushält, weil sie sich für besser hält als die Hoykas. Erst als sie etwas, was ihr nicht gehört, der andere aber nicht braucht, für jemanden, der es gut brauchen kann, mitnimmt, also stiehlt, kommt ihr gesamtes Inneres, ihr angepaßtes System ins Wanken, was zu solchen Überlegungen führt wie: „Dann kam ihr ein merkwürdiger Gedanke: Wenn sie in ihrem Leben nur häufig genug sündigen würde, dann würde sie im nächsten Leben vielleicht als Christin wiedergeboren”¦“(Seite 272)
Von den vielen Sätzen, die wir uns zum Zitieren herausgeschrieben hatten, weil sie so wahrhaftig, oder so deftig, so subtil, so pervers oder einfach sprachlich schön waren, wenigstens dies kleine Beispiel: Adiga erfindet Sprachbilder, die in der Übersetzung von Klaus Modick auch poetischen Ausdruck im Deutschen gewinnen: „Der Himmel war wie zum Meditieren gemacht. Ein paar vollkommen geformte Wolken trieben wie erfüllte Wünsche durch das Blau. Zum Horizont hin wurde die Farbe des Himmelszelts dunkler und berührte einen Wellen Kamm des Arabischen Meers. Mr D’Mello ließ die Schönheit des Morgens auf seine aufgewühlten Gedanken wirken.“ Seine Sprachkraft fällt einem nur hin und wieder auf, weil man viel zu gebannt, die Geschichten verfolgt.
Schauen wir uns die Stadt Kittur an, so wie sie bei der Volkszählung von 1981 bei 193 432 Einwohnern erhoben wurde (Seite 245). Es werde vier Bevölkerungsgruppen unterschieden, innerhalb der Hindus die Hohe Kaste der Brahmanen mit 8 Prozent, die sich aber in drei Sprachengruppen unterteilen sowie die Bunts mit sechzehn Prozent. Die Niedere Kaste besteht aus den Hoykas mit 24 Prozent. Die Unberührbaren, also die kastenlosen Alleruntersten sind neun Prozent stark. Spannend wird es bei den Minderheiten, die hier religiös definiert sind. Moslems gibt es in Kittur sechzehn Prozent, 14 Prozent Sunniten, 1 Prozent Schiiten und weniger als 1 Prozent Ahmediya, Bohra, Ismaili. Als Katholiken bezeichnen sich 14 Prozent und „Protestanten (Anglikaner, Pfingstler, Zeugen Jehovas, Mormonen): 3 Prozent…andere Religionen (einschließlich Parsen, Juden, Buddhisten, Brahmo Samaji und Baha’i: weniger als 1 Prozent. 89 Einwohner geben an, keiner Religion oder Kaste anzugehören.“
Sind Sie mitgekommen? Wenn nein, müssen Sie dieses Buch lesen. Wenn ja, auch. Denn auf 384 Seiten läßt Aravind Adiga alle zu Wort kommen und erst als wir diese fiktive Statistik der fiktiven Provinzstadt Kittur lasen und diese Gemengelage aus differenten Religionen und dem ursprünglich hinduistischen Kastenwesen verinnerlichten, wurde uns klar, aus welchem menschlichen Schmelztiegel uns der Autor seine Blüten präsentiert, die uns oft traurig machen, ob der grausamen Verhältnisse und der Schlechtigkeit der Menschen, die aber auch froh machen, wie einzelne ihrem Schicksal trotzen. Letzten Endes ist Adiga ein direkter Nachfolger der Aufklärung, die idealtypische Konstrukte schuf, in denen man in erfundenen Landen Menschen agieren ließ zu dem Zwecke, daß sich der Leser in diesen wiederfand, daraus lernte und ein besserer Mensch wurde. Das ist das eine.
Das andere ist die Kunst dieses Schriftstellers, das Menschliche nicht menschelnd zu machen und ideologisch darzustellen, sondern zu einer brodelnden Vielfalt zu gestalten, Menschen, die sich in Hin und Her mal verlieren, mal finden, die fast alle unter Hunger leiden und der Korruption quer durch die Gesellschaft, die ausgebeutet werden, so wie sie selbst ausbeuten, wenn sie können – der Mensch bleibt dem Mensch ein Wolf -, die aber nicht depressiv durchs Leben schleichen, sondern mit Köpfchen und Mutterwitz immer wieder versuchen das Beste aus ihren Lebenssituationen zu machen – oder das Schlechteste. Und das ist das Wunderbare an diesem Buch, daß es – auch erzählerisch – keine Schablonen kennt, daß zwar immer alles von vorne anfängt, aber ganz anders ausgeht, als die Protagonisten – und wir! – dachten.
Und da wir Aravind Adiga schon Dickens und die Aufklärung untergeschoben haben, wollen wir ihm auch noch Balzac beigesellen, dessen La Comédie Humaine von Balzac als Pendant zu Dantes Göttlicher Komödie 1842 so genannt wurde und die er auf 137 Romane und Erzählungen anlegte, wovon er bis zum Tode 1850 immerhin 91 vollendet hatte. So weit muß es Aravind Adiga nicht treiben, aber weiterschreiben sollte er schon. Ihn lesen macht süchtig.
Aravind Adiga, Zwischen den Attentaten, Verlag C.H. Beck, 2009