Zuerst sind da nur die Bilder. Authentisch wirkende Bilder, die vom Leben innerhalb des jüdischen Ghettos in Warschau erzählen. Man glaubt diese Bilder, lässt sich von ihnen blenden. Doch was die Bilder vermitteln sind Lügen. Die scheinbar nebenher aufgenommenen Momente sind gestellt, Teile eines unvollendeten Propagandafilms. „Shtikat Haarchion“ ist eine Dokumentation über eine Schein-Dokumentation. Eine lange Zeit verschwiegene Wahrheit über eine lange Zeit wiederholte Lüge. Die im Warschauer Ghetto aufgenommenen Szenen sind Bruchstücke des längsten aller Nazi-Propagandafilme. „A film unfinished“, untertitelte Hersonski ihre Reportage, in welcher sie das kurz vor der Deportation der Juden begonnene Werk rekonstruiert. In groteskem Widerspruch zu der propagandistischen Intention des unvollendeten Films, wurden die verbliebenen Propagandaaufnahmen nach Kriegsende als authentische Zeugnisse des Ghetto-Lebens missdeutet. In der kollektiven Erinnerung späterer Generationen ist die gefilmte Fiktion zur Realität geworden. Anstelle eines Hintergrundkommentars aus heutiger Sicht lässt Hersonski den Wochenbericht eines SS-Offiziers und das Gerichtsprotokoll der Befragung eines am Dreh beteiligten Kameramannes verlesen. Die nüchternen Berichte stehen als kalter Kontrast den durch ihren historischen Kontext hoch emotionalen Bildern gegenüber. Ebenso ergreifend sind die Interviews mit Überlebenden, welche den damaligen Filmdreh im Ghetto miterlebten. Die alte Frau sitzt in einem Kino, als sie sich erinnert, wie Soldaten eine verhungernde Frau vor einem der mit essbaren „Requisiten“ gefüllten Geschäfte filmten und verspotteten. Über die Leinwand flackern die Bilder, von denen die Befragte als eine der letzten wusste, dass sie fiktiv sind.
Die ausgemergelten Menschen, welche ebenfalls auf den Aufnahmen zu sehen sind, wurden in gestellten Szenen gut gekleideten Ghetto-Bewohnern gegenübergestellt, die angewiesen waren, den vermeintlich Bettelnden nichts zu geben. Szenen, welche die faschistischen Vorurteile über Juden bestätigen sollten. Wiederum waren es hier jene von Entbehrung gezeichnete Menschen, deren Auftauchen in den Bildern zu deren Glaubhaftigkeit beitrug. Realität und Fiktion vermischen sich auf bizarre Weise in den Bildern, auf denen die tatsächlichen Bewohner des Ghettos fiktive Szenen darstellen müssen, welche gegenüber der Außenwelt als Dokumentation über ihr Leben ausgegeben werden sollen. Gedreht wurden die Szenen, um Neid und Wut auf das angeblich üppige Leben der „reichen Juden“ zu erzeugen. Tatsächlich führten die Bewohner des Ghettos ein von Mangel geprägtes Leben. Die Lebensmittel und Naturalien, welche man auf dem Filmmaterial in Schaufenstern jüdischer Geschäfte und auf den Marktständen sieht, wurden eigens für den Dreh in das Ghetto gebracht. Ebenso erschreckend wie das Perfide des Propagandafilms ist die Sorgfalt, mit welcher er gedreht wurde. Oft wurden Szenen wiederholt, mit leicht veränderten Details oder aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen.
Die Überzeugungskraft der Bilder ist bis heute ungebrochenen. Dennoch bleibt die quälende Frage, ob die Bilder auch geglaubt wurden, weil sie unterschwellig Vorurteile bestätigten, welche sich die Betrachter nicht eingestehen wollten. Man glaubt, was man glauben möchte. Auch davon spricht die Geschichte eines „Film unfinishd“. Yael Hersonskis „Shtikat Haarchion“ ist ist mehr als das eindrucksvolle Dokument perfidester historischer Propaganda. Ihre aufrüttelnde Dokumentation erinnert an die Macht, welche die modernen Massenmedien bis heute ausüben. Ihr Beitrag im Berlinale Forum ist eine Mahnung, zu hinterfragen, was man sieht und was man auf Bildern sehen will.
Titel: Shtikat Haarchion – A film unfinished
Berlinale Forum
Land/ Jahr: Israel 2009
Genre: Dokumentarfilm
Regie und Buch: Yael Hersonski
Laufzeit: 89 Minuten
Bewertung: ****