„Von der Autorin Dominique Manotti, deren Thriller Letzte Schicht Sie auf dem dritten Platz finden, würden sie ohne die KrimiBestenliste vermutlich nichts wissen. Einen derart spannenden und kenntnisreichen Roman aus dem für Krimis geradezu exotischen Milieu der Fabrikhallen und sterbenden Stahlunternehmen entdeckt zu haben, rechnet sich die Jury der KrimiBestenliste als Ehre an.“, spricht die Jury über sich selbst und da sie recht hat, wollen wir das weitertragen. Wir sind auch froh, daß neben den ersten beiden Amerikanern auch Europa noch siegen kann. Und wir sind froh, daß es hier wirklich einmal um die Sorgen der kleinen Leute geht und um den Zusammenhang von Politik und Wirtschaft im Detail. Erschienen ist dieser ungewöhnliche gewöhnliche Roman bei ariadne im Argumentverlag.
Auch die anderen sieben Titel sind außergewöhnlich. So soll es bei einer JahresBestenliste unter rund tausend Kriminalromanen des Jahres auch sein, die im übrigen nicht unterscheidet zwischen deutschen und fremdsprachigen Autoren. Leider, muß man fast sagen. Denn wonach man deutlich fragen muß, ist, ob wirklich nur ein deutscher Titel als letzter, als zehnter bei der Bestenliste möglich war? Dies ist ganz unten „Das finstere Tal“ von Thomas Willmann. Oft haben wir die KrimiBestenliste schon nach deutschen Kriminalromanen befragt. Was wäre zum Beispiel mit den dreien, die gerade den deutschen Krimipreis erhalten haben: Das sind Bernhard Jaumannn für „Die Stunde des Schakals“, erschienen bei Kindler, 2. Platz an Frank Göhre für „Der Auserwählte“ im Pendragon Verlag und auf dem 3. Platz an D.B. Blettenberg für „Murnaus Vermächtnis“ im Verlag Dumont. Alle drei Kriminalromane waren auch bei der monatlichen KrimiBestenliste hoch dotiert und im Weltexpress in der monatlichen Krimikommentierung sehr gut besprochen worden. Dabei fällt uns auf, daß „sorry“ von Zoran Drvenkar aus dem Ullstein Verlag überhaupt nicht vorkommt. Das ist doch ein starkes, sehr ungewöhnliches Buch und hat viele Preise erhalten.
Grundsätzlich finden wir, daß die KrimiBestenliste zu stark den „amerikanischen Krimi“ favorisiert. Das ist ein Kriminalroman, in dem ein Detective oft einsam seinen Kampf gegen den Sumpf der Gesellschaft aufnimmt und siegreich, wenngleich beschädigt, daraus hervorgeht. Etwas melancholisch, auf die Liebe wird notgedrungen oft auch verzichtet, Bei dieser Zehnerliste sind acht der Plätze Romane aus dem angloamerikanischen Sprachraum, davon vier aus dem amerikanischen und vier aus dem englischen, dem auch der ghanaischen Autors Nii Parkes mit „Die Spur des Bienenfressers“ aus dem Unionsverlag zugehört, ein Roman, der die große weite Welt in ein kleines Dorf bringt und vom Sujet und der literarischen Umsetzung her etwas ganz Besonderes ist.
Fünf der Kriminalromane spielen in den Vereinigten Staaten, ein weiterer der englischen in Südafrika und einer in Tokio. Wir fragen ja nicht nur nach den deutschen Krimiautoren, wir fragen auch nach denen Skandinaviens, einschließlich Finnlands, das ja nicht dazu gehört, aber wie Schweden, Norwegen und Dänemark eine starke Riege von Schriftstellern aufweist, die im Krimigewerbe zu Hause sind und bei Lesungen Säle füllen und Bestsellerzahlen erreichen. Dazu sollte sich die verdienstvolle Jury der KrimiBestenlisten schon etwas einfallen lassen. Etwas Gutes.
Lfd. Nr. |
Rang |
Titel |
1 |
1 |
Don Winslow: Tage der Toten Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte Suhrkamp, PB, 689 S., 14,95 € USA/Mexiko/Mittelamerika: Dreißig Jahre Drogenkrieg, Antikommunismus, Mord, Folter, Armut und imperiale Gewalt. Don Winslows Epos um US-Drogenfahnder Art Keller und seine keineswegs private Fehde mit den Barreras aus Guadalajara ist das „Krieg und Frieden“ unserer Tage. Epochal, grandios, erschütternd. |
2 |
2 |
Richard Price: Cash Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow S. Fischer, geb., 524 S., 19,95 € Lower East Side, Manhattan: Mit Ultra-Dokumentar-Seelen-Kamera viviseziert Price alle Handlungs- und Beziehungsimplikationen eines irgendwie systemischen Totschlags, scharf, unscharf und aus der Totale. Keiner ist böse. Alles geschieht. Niemand versteht es. Tod als Anlass, weiter zu machen wie bisher. |
3 |
3 |
Dominique Manotti: Letzte Schicht Aus dem Französischen von Andrea Stephani ariadne im Argumentverlag, TB, 256 S., 12,90 € Pondange, Lothringen/Warschau/Paris: Ein Betriebsunfall, eine Fabrikbesetzung. Arbeiter geraten an Material, das die Fusion zweier Wirtschaftsgiganten beeinflussen und die Regierung stürzen könnte. Manotti ist eine Klasse für sich: lebensnah, realistisch, vertrackt. Der Krieg der Konzerne in den kleinen Städten. Solitär. |
4 |
4 |
Pete Dexter: God’s Pocket Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt Liebeskind, geb. 368 S., 22,00 € God’s Pocket, Philadelphia: In seinem Debütroman von 1983 enthält sich Pete Dexter jeder Erklärung. Gewalt geschieht, etwas geschieht immer. Antimetaphysisch, grotesk erzählt er aus dem Pandämonium einer amerikanischen Vorstadt von Bauarbeitern, Fleischschmugglern, Kleingangstern, Träumern. Furios. |
5 |
5 |
James Ellroy: Blut will fließen Aus dem Amerikanischen von Stephen Tree Ullstein, geb., 784 S., 24,90 € Los Angeles/Las Vegas/Washington: Drei Männer auf der Jagd nach der Beute aus einem Raubüberfall. Zwei rote Göttinnen. Dazu Kokser, Rassisten, FBI, Hetzjagden, Counterinsurgency. Ellroys Abschluss der US-Unterwelt-Trilogie: Monumental-Cluster alles Bösen der Jahre 68-72. Inkommensurabel, wütend kalt gehämmert. |
6 |
6 |
Josh Bazell: Schneller als der Tod Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch S.Fischer, geb., 304 S., 18,95 € New York: Pietro Brwna heißt im Zeugenschutz Dr. Peter Brown und trotzt jetzt als Arzt dem Tod im Krankenhaus. Vergeblich. Das liegt am verluderten System und an seiner Vorgeschichte als Auftragskiller. Zum Brüllen intelligent: Bazell massakriert Medizin und Mafia. Viel besser als Koks. Macht schneller süchtig. Flitzer des Jahres. |
7 |
7 |
David Peace: Tokio, besetzte Stadt Aus dem Englischen von Peter Torberg Liebeskind, geb., 352 S., 22,00 € Tokio 1948: Als Amtsarzt, vorgeblich im Auftrag der US-Besatzungsbehörden, impft er die Angestellten einer Bank: von 16 Vergifteten überleben 4. Nach Polizeifolter geständig verurteilt: Aquarellmaler Hirasawa. Peace auf neuem Weg: 12 Zeugen, 12 Wahrheiten über Kriegs- und Nachkriegsverbrechen, Biologische Waffen, Besatzung. Meisterhaft. Nach einem wahren, ungelösten Fall. |
8 |
8 |
Nii Parkes: Die Spur des Bienenfressers Aus dem Englischen von Uta Goridis Metro im Unionsverlag, PB, 224 S. 16,90 € Accra/Sonokrom: Yaw Poku, traditioneller Jäger, und Kayo, in England ausgebildeter Tatortanalytiker. Zwei Ermittler, zwei Kulturen, zwei Lösungen. Ohne die Mätresse des Ministers wäre im Dorf Sonokrom nur ein Stück Fleisch vergammelt, jetzt ist es Mord im unzivilisierten Hinterland Ghanas. Satirisch, poetisch, ein Kleinod. |
9 |
9 |
Roger Smith: Blutiges Erwachen Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Peter Torberg Tropen bei Klett-Cotta, geb., 356 S., 19,95 € Kapstadt: Am Strand schnitzt ein Serienkiller an Blondinen. Zwei Tik-Junkies überfallen Waffenhändler Joe. Roxy durchlöchert ihren Mann. Ex-Bulle Billy hat Schuldgefühle. Gangster Piper will schlitzen, was sich regt, und seinen Lover lebenslang. Kapstadt als Rassenkampf-Gierstadt: Smith splattert, trasht und junkt, dass es kracht. |
10 |
10 |
Thomas Willmann: Das finstere Tal Liebeskind, geb., 320 S., 19,80 € Deutsches Gebirgstal/Wilder Westen: Greider dringt in das abgelegene Hochtal vor, wo die Brenners mächtig sind. Den Winter über malt er ein Gruppenbild. Am Ende werden alle Porträtierten tot sein. Eine Gewaltgeschichte – jedes Komma 19. Jahrhundert. Alpin-Western und Blutheimat-Roman. Tolles Stück, Wildes Debüt. |
Der Weltexpress kommentiert monatlich die KrimiBestenliste, die von Tobias Gohlis in Gang gehalten wird, wie nun auch die Erstellung der JahresBestenliste. Die „Bestenliste“ wird im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats im NordwestRadio vorgestellt.
Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 900 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury hat sich verändert und setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Literaturwissenschaftler
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer
In der Jury der KrimiWelt-Bestenliste hat es einige Veränderungen gegeben: Kathrin Fischer und Jochen Schmidt sind ausgeschieden. Neu hinzugekommen ist Jochen Vogt, einer der wenigen akademischen Literaturwissenschaftler, der den Kriminalroman schon vor Jahrzehnten erforscht hat.
Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.
Unter www.arte.tv/krimiwelt finden Sie die Bestenliste mit Kurzrezensionen der Juroren, Kommentaren des Jurysprechers („What’s New?“) und weiteren Informationen zu Büchern und Autoren („Krimiautoren A-Z“).