Ein Jahr später berichtet David einer Internet-Bekanntschaft in einer E-Mail von seiner Rolle bei dem Tod seiner Frau. David erklärt auch, ohne Anzeichen von Bedauern, dass er seine Frau und die von ihr verursachten Schulden loswerden wollte, damit er sich ein Auto kaufen konnte.
Das Stück von Dennis Kelly beginnt schrecklich und zynisch, und es hat ein Happy-End. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass die Ereignisse rückwärts erzählt werden, vom traurigen Ende bis zum glücklichen Anfang wie in der berühmten „Spiegelgeschichte“ von Ilse Aichinger.
Diese Technik des Rückwärtserzählens bewirkt eine völlige Veränderung der Betrachtungsweise sowie einen außergewöhnlichen Spannungsverlauf. Es geht hierbei ja nicht um Erinnerungen, die zurückgerufen werden, sondern um eine Umkehr der Zeit. Auf die Gegenwart folgt nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit. Die Welt dreht sich rückwärts.
Daniel Hoevels als David erscheint zu Beginn als eiskalter, rücksichtsloser Egozentriker. Seiner Frau gegenüber zeigt er sich zunächst grausam und brutal. Dann aber offenbart er seine Hilflosigkeit angesichts der Erkenntnis, dass Jess, die gerade eine Therapie hinter sich hat, von ihrer Kaufsucht nicht geheilt wurde.
David entwickelt sich weiter zu einem erbärmlichen Subjekt, das sich von seiner ehemaligen Freundin Val demütigen lässt. Mit seinem Gehalt als Lehrer kann David die Schulden seiner Frau nicht tilgen. Er braucht eine besser bezahlte Stelle und hofft auf Vals Hilfe. Der würdelose David, der sich sogar in die Prostitution vermitteln lässt, wird danach zum idealistischen Lehrer und schließlich zu einem glücklichen Bräutigam.
Die Ereignisse, die diese Entwicklung begleiten und fördern, sind in kleinen, schnell aufeinander folgenden Szenen lediglich angedeutet. Daniel Hoevels arbeitet mimisch und gestisch mit sehr sparsamen Mitteln, wobei es ihm überzeugend gelingt, Davids Veränderung sichtbar und verständlich zu machen.
Wie zerstörerisch sich die Kaufsucht von Jess (Susanne Wolff) auf die junge Frau und ihren Mann auswirkt, ist in der kurzen Szene spürbar, in der es um den Rückfall von Jess geht. Sie berichtet erschrocken und voller Entsetzen von einem Vorfall auf der Straße, bei dem ein Mann einen Passanten erstochen hat. Angeblich war sie Zeugin dieser Bluttat und hat versucht, zu helfen. David, anstatt seiner Frau zuzuhören und sie zu beruhigen, unterbricht sie immer wieder mit bohrenden Fragen nach dem Anliegen, das sie in das Stadtviertel geführt hat, in dem sich, nach ihrer Angabe, die Gewalttat ereignet hat.
Schließlich gesteht Jess, dass sie erneut dem Zwang, etwas zu kaufen, nicht widerstehen konnte. Jess mit ihrer, wahrscheinlich erfundenen, Geschichte vom erstochenen Mann, ist ein einziger Hilfeschrei. Sie versucht, den Kauf von ein paar CDs herunterzuspielen als etwas Belangloses, und weiß doch selbst ganz genau, dass sie wieder abgestürzt ist und weiter fallen wird.
David, der verständnislos und abweisend reagiert, offenbart, dass er keine Kraft mehr besitzt. Daniel Hoevels macht deutlich, dass dieser Mann seiner Frau immer und immer wieder beigestanden und nun die Hoffnung verloren hat, ihr helfen zu können.
Um das Paar herum gibt es eine kleine Gruppe von Menschen, die an der Tragödie von Jess und David beteiligt sind.
Da sind die Eltern von Jess (Sandra Flubacher und Stephan Schad), die ihrer Tochter schließlich kein Geld mehr gegeben haben, was die Mutter dem Vater beständig vorwirft. Mehr noch als die Trauer um ihre Tochter verbindet die Eltern der Zorn über das protzige Grabmal, das ein Grieche für seine verstorbene Frau errichten lässt, auf dem Grab neben dem von Jess. Der Vater ist vor allem empört darüber, dass der Grieche so viel Geld für das Monument ausgegeben hat, das schließlich von Jess’ Eltern zerstört und geschändet wird.
Val, Exgeliebte von David (Victoria Trautmannsdorf), erfolgreiche Unternehmerin, ist eine bösartige Frau, die sich heimtückisch für alles rächt, was ihr jemals in ihrem Leben angetan wurde. Victoria Trautmannsdorf verkörpert außerdem die Büroangestellte Debbie, ebenfalls eine boshafte Person, dazu mit extrem perversen Neigungen. Auch der Fetischist Duncan (Hartmut Schories), eine tragische, dabei äußerst unangenehme Erscheinung, hat höchst eigenartige Vorlieben.
Diese Nebenfiguren sind ein bisschen zu grotesk überzeichnet. Sie werden von den SchauspielerInnen aber sehr dezent präsentiert und erscheinen als nicht ganz fassbare VertreterInnen einer kalten, gefährlichen Konsumwelt.
Stephan Kimmig ist es in seiner temporeichen, atmosphärisch sehr dichten Inszenierung gelungen, auch die phantastischen und absurden Elemente des Stücks sinnvoll in die stimmige Geschichte einzubauen.
Die Produktion des Thalia Theaters, Hamburg war im Rahmen des Theatertreffens im Deutschen Theater zu Gast. Dort stand auf der Vorbühne der verglaste Würfel, den Katja Haß und Oliver Helf für die Inszenierung entworfen haben. Dieses Objekt ist ein kleines Haus mit vielen engen Räumen, die ganze enge Welt vielleicht, in die Jess und David eingesperrt sind. Die tote Jess klettert darin herum auf der Suche nach einem Platz zum Ausruhen. Zu Beginn liegt David oben in einem Bett. Während der Vorstellung sind immer wieder sämtliche Mitwirkende bei ihren Umzügen in verschiedenen Abteilungen des Würfels zu sehen, der sich mit immer größerer Geschwindigkeit um sich selbst dreht.
Gespielt wird vor allem auf dem kiesbestreuten Platz vor dem Würfel. Dort wird auch am Ende die Hochzeitstafel aufgestellt, an der alle glücklich vereint beisammen sitzen. Jess, schon etwas angetrunken, hält eine Rede über Gott und die Welt. Sie schwafelt ziemlich unsinniges Zeug zusammen über das Weltall und seine Entstehung. Susanne Wolff gestaltet diesen albernen Vortrag mit so viel Innerlichkeit und Wahrhaftigkeit, dass die Worte unwichtig werden und sich aus der Rede ein ganz tiefer Sinn ergibt. Jess ist auch völlig glaubwürdig, wenn sie sagt, dass es viel Wichtigeres gibt als Konsum und materiellen Besitz. Aber als sie dann das Haus anschaut und mit überschwänglicher Begeisterung verkündet, sie möchte das Alles verschönern, da wird aus dem schönen Ende der Geschichte doch wieder der Beginn der Tragödie.
Und trotzdem hinterlässt diese kostbare kleine Produktion etwas sehr Schönes, den Gedanken an Hoffnung, die aus einem bitteren Ende auch wieder einen neuen Anfang machen kann – oder umgekehrt.