Richtig schien im Nachhinein auch die Entscheidung des 50-Jährigen und seiner 21-jährigen Tochter, beheimatet im Berliner Randbezirk Kaulsdorf, der Kleiderordnung. Ursprünglich wollten Vater und Tochter als Mix-Paar auf der Stehtribüne gegenüber des neuen Betonblocks mit VIP- und Presseplätzen erscheinen: Einer mit Union-Shirt, der andere mit St.-Pauli-Schal.
Sie haben es denn „neutral“ gelassen, wie Karsten meinte – also ohne Fan-Utensilien. Nicht aus Vorsicht vor Anmache, „sondern einfach so – weil man ja nie weiß, wie das Spiel endet“.
Union und St. Pauli, in der Szene hinlänglich als Kultvereine etabliert, sind nämlich die beiden Lieblingsvereine der beiden Kaulsdorfer. Eine Konstellation, die dazu führt, dass der Stadionsprecher die Gäste aus Hamburg „ganz, ganz herzlich“ begrüßt. Und darauf – wie sonst oft üblich beim Erscheinen von Gastmannschaften – kein Pfeifkonzert (bis auf paar Einzelpfiffe) als Echo erntet. Und Polizei/Ordnungsdienst lediglich in normaler Besetzung angetreten sind und das Gelände nicht hermetisch wie bei einem Anti-Terror-Einsatz abgesperrt halten…
Dass letztendlich die Gastgeber völlig verdient die Arena als Sieger verlassen, hat irgendwie einen logischen Hintergrund. Denn wie kann ein Aufgebot gewinnen, dass in der Besetzung zwölffach unterlegen ist?
Bei der Vorstellung der heimischen Elf durch Stadion-und Pressesprecher Christian Arbeit folgt nämlich auf Namensnennung das Tribünenecho „… Fußballgott“. Und da auch Union-Trainer Uwe Neuhaus in den verbalen Rang eines Fußball-Gottes erhoben wird, müssten die Nichtgötter und Kiezkicker aus dem Rotlicht-Bezirk von vornherein chancenlos sein…
Nach einem Heber in bester Messi-Manier durch Berlins Torjäger Simon Terodde und einer Direktabnahme durch Spielmacher-Kapitän Torsten Mattuschka („Du bist der beste Mann“-Chöre nach zwei weiteren Torvorlagen) hat sich die Vermutung auch zahlenmäßig bestätigt.
Dann aber zeigt sich Unions linke Abwehrseite anfällig.Eine Hereingabe verwandelt Marius Ebbers zum 1:2. Worauf rund 500 ansonsten friedlich gestimmt Pauli-Anhänger auch ihn nach seinem 100. Treffer für die Paulianer zum „Fußball-Gott“ erheben.
Ein sehenswerter Volleyschuss von Sebastian Schachten führt zum 2:2 und eine Steigerung des Hochgefühls bei den Gästen, die wegen der Abstiegsgefahr jeden Punkt bräuchten.
Doch die Hausherren wollen sich den Rekordtag, das Wochenende und die gute Laune nicht verderben lassen. Und stellen durch Adam Nemec und erneut Terodde den 4:2-Sieg sowie drei Punkte sicher. Und erwecken im Umfeld die nach der Cottbus-Niederlage gedämpften Hoffnungen auf den Relegationsplatz zum Aufstieg in die Erste Liga.
Was aber bei den Realisten in Unions Anhang sehr skeptisch gesehen wird. Erste Liga?- Nicht nur Karsten und Luisa meinen, das würde den finanziellen, logistischen und mentalen Rahmen ihres Kultvereins sprengen. Wenn selbst ein überregionaler Kultverein wie Schalke trotz Sponsoren, dreifacher Zuschauerzahl und Millionen-Einnahmen aus der Champions League das Geschäftsjahr im Minus abschließt, wie sollte dann der Köpenicker Kiezverein das Abenteuer Erste Bundesliga schadlos überstehen?