Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die letzte Nacht der Autorentheatertage Berlin 2017 gehörte den Frauen. Die Jury, bestehend aus der Kulturjournalistin Anke Dürr, der Schauspielerin Annette Paulmann und dem Autor und Filmemacher Jan-Ole Gerster, hatte aus 125 eingesandten Texten drei ausgewählt, die alle von Autorinnen verfasst sind. Zum Abschluss des Festivals waren die Uraufführungen der Stücke zu erleben in Inszenierungen vom Deutschen Theater Berlin, vom Schauspielhaus Zürich und vom Burgtheater Wien.
Wie die beiden NewcomerInnen Miroslava Svolikova und Jürg Halter zeichnen sich auch die Gewinnerinnen der langen Nacht durch ihre poetische Sprache aus. Dabei geht es nicht nur um Ästhetik, den schönen Klang, der im Ohr bleibt, sondern um die Sprache als Präzisionsinstrument, das auch das Unsagbare eingrenzt und benennt.
Die 1978 in Tel Aviv geborene Sivan Ben Yishai lässt ein Gruppe von Menschen von ihren traumatischen Erfahrungen berichten in „Your Very Own Double Crisis Club“ mit dem Untertitel „Ein übersetztes Klagelied mit furchtbarem Akzent“, das Henning Borchert aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hat. András Dömötör hat es am DT inszeniert mit Judith Hofmann, Felix Goeser und sechs Studierenden der Universität der Künste Berlin.
Den Anfang macht die charismatische Mariann Yar. Sie erzählt etwas in einer fremden Sprache, wiederholt es mehrfach eindringlich und beginnt schließlich auf Deutsch: „Es ist nicht schwer zu beschreiben, was ich sah, als ich den Kopf umdrehte und zurückblickte.“
Zu beschreiben ist es leicht, aber es ist kaum zu ertragen, was die Sprecherin gesehen und erlebt hat. Zu ihr gesellen sich andere (Hicham-Tankred Felske, Christian Hankammer, Esther Maria Hilsemer, Richard Manualpillai und Til Schindler), bilden eine kleine, dicht aneinander gedrängte Gruppe. Alle tragen blaue Anzüge mit goldenen Sternen, ihr Bekenntnis zu Europa, oder die Uniform für Geflüchtete, die ihnen hier verpasst wurde.
Sie sind da, aber sie sind noch gar nicht angekommen. Immer noch sehen sie die zerbombte, brennende Stadt, in der die Menschen sterben und aus der einige fliehen können. Es ist leicht, das zu beschreiben, d.h. es gibt genügend Worte für das, was sie gesehen und erfahren haben, aber es ist kaum möglich, es denen verständlich zu machen, die in Frieden und Sicherheit leben mit ihrer eigenen Kultur und ihren eigenen Geschichten.
Um die Zerrissenheit der Geflüchteten geht es in Sivan Ben Yishais Stück. Die brennende Stadt hat keinen Namen, es ist irgendeine der vom Krieg zerstörten Städte, in der die Geflüchteten sich selbst zurücklassen mussten, ihre Identität, ihre Sprache, ihre Kultur. Was sie erzählen, wird hierzulande verfremdet zu Sensationsberichten oder zu „subventionierter Immigrantenpoesie“.
Den unsicheren, verlorenen Geflüchteten treten die Einheimischen laut und selbstsicher gegenüber. Felix Goeser am Schlagzeug, und Judith Hofmann mit einer flammenden Rede gegen die Männer, die Kriege anzetteln und die Welt zerstören.
András Dömötör hat die Kontraste deutlich herausgearbeitet. Während die Heimat der Geflüchteten in Schutt und Asche liegt, wird hierzulande gebaut, Neues entsteht nach traditionellem Muster.
In Windeseile errichten die Bühnenarbeiter ein Podest mit einem nostalgischen Salon, die kalte Pracht für WohlstandsbürgerInnen, eine großartige Idee von Bühnenbildner Sigi Colpe, in der die Einheimischen residieren und die Geflüchteten sich ängstlich und befremdet verstecken.
Auch in Afsane Ehsanders Stück „Welches Jahr haben wir gerade“ geht es um Geflüchtete. Die Autorin wurde 1981 im Iran geboren, kam 2014 nach Deutschland und schreibt auf Deutsch.
Auf der Bühne sind zwei Frauen und ein Mann. Beide Frauen sind jung, sehen unterschiedlich aus und sind unterschiedlich gekleidet. Beide sagen nacheinander dieselben Worte. Anfangs spricht nur eine der Frauen, sagt: „Heute morgen bin ich durchgedreht“, erzählt von einem Spaziergang, bei dem sie von der Polizei kontrolliert und übel behandelt wurde.
Die andere Frau kommt dazu, wiederholt Teile von Sätzen. Manchmal beginnt auch die zweite Frau zu erzählen und die erste wiederholt einige Worte. Niemals sprechen sie gleichzeitig. Sie sind nicht dieselbe, sie sind eine Frau, gespalten in zwei Personen, und eine dritte Person ist hörbar als Stimme vom Tonband.
Manchmal singen die Frauen ihre Texte. Dann scheint jede ganz auf sich selbst konzentriert. Auch der Mann singt einmal, ein fröhliches Lied über sein Leibgericht.
Während des Stücks flickt die Frau den Vorderreifen ihres Fahrrads. Anfangs übernimmt der Mann dabei einige Handreichungen, später macht sie alles allein. Sie erzählt, sie habe gekocht und erwarte ihn zum Essen, aber er scheint weit entfernt zu sein. Sie erzählt von ihrem Kind, das schon ein paar Jahre alt ist, aber er wirft ihr vor, das Kind abgetrieben zu haben ohne ihn vorher in Kenntnis zu setzen.
Einmal fragt die Frau: „Welches Jahr haben wir gerade?“ In ihren Erzählungen scheinen sich Vergangenheit und Gegenwart zu vermischen, vielleicht auch mit Ausblicken auf die Zukunft.
Der Mann gibt der Frau Ratschläge für eine Anhörung, die ihr bevorsteht. Damit sie nicht abgeschoben wird, muss sie sich anpassen, vielleicht auch die Haare blond färben.
Sie erzählt, wie sie bei einem Spaziergang zufällig an einen FKK-Strand geraten ist und sich ausgezogen habe, um nicht aufzufallen, und wie sie dann von ihren Landsmännern vor allen anderen gerügt und gedemütigt worden sei.
Die Frau erzählt auch von Menschen, die auf der Flucht im Meer ertrunken sind. Vielleicht ist sie noch gar nicht angekommen, vielleicht hat sie das, wovon sie berichtet, nur von anderen gehört. Das Publikum bekommt keine Aufklärung. Es wird mit hineingezogen in die Ängste und die Verwirrung einer Frau, die sich selbst verliert bei dem verzweifelten Versuch, in einem fremden Land zu einer Fremden zu werden.
Schauplatz der Handlung ist ein leeres Schwimmbecken, das als Werkstatt eingerichtet ist, in der die Heimatlosen ihr neues Leben vorbereiten. (Bühnenbild Marie Luce Theis).
Melanie Huber hat das Stück am Schauspielhaus Zürich sehr einfühlsam inszeniert. Sarah Gailer, Sarah Hostettler und Nicolas Rosat verkörpern die Personen mit sparsamen Gesten, konzentriert auf die poetisch dichte Sprache, die auch in den Tonbandaufnahmen von Isabelle Menke hörbar ist und in der die Emotionen der Protagonistin beklemmend deutlich werden.
„Kartonage“ von Yade Yasemin Önder ist eine Groteske mit tiefschwarzem Humor, in der die Worte rasiermesserscharf schneiden. Es gibt viel zu lachen in Franz Xaver Mayrs Inszenierung vom Wiener Burgtheater. Das ist vor allem der hinreißenden Komödiantin Petra Morzé zu verdanken, die Pointen wie Pfeile abzuschießen versteht und als Monster-Mutter die Szene beherrscht, wobei die auch ein zutiefst gedemütigtes Wesen ist, in dem die Rachsucht gefährlich brodelt.
Seit 16 Jahren lebt das Ehepaar Werner in einem Karton ohne Türen und Fenster. Bühnenbildner Michael Flück hat das hervorragend anschaulich gemacht. Es gibt nur einen Spion, durch den Herr Werner gelegentlich die Leute draußen beobachtet. „Eiche depressiv“ nennt Frau Werner die Einrichtung des Wohnraums. Die Werners haben sich dort verschanzt, nachdem ihre Tochter Rosalie ihnen Schande gemacht hat und sie sich im Dorf nicht mehr sehen lassen mögen.
Rosalie (Irina Sulayer) wollte weg aus ihrem Zuhause, in dem ihr Vater sie in einen Karton sperrte, wenn sie nicht brav war. In Filmaufnahmen ist zu sehen, wie die Fünfzehnjährige mit ihrer Freundin Ella (Marta Kizyma) herum lungert, raucht, trinkt, schlechte Erfahrungen mit Jungen macht und schließlich mit einem geklauten Auto auf dem Weg in ein besseres Leben ist. Nach kurzer Fahrt verursacht Ella einen Unfall, bei dem sie zu Tode kommt, und Rosalie verschwindet.
Sechzehn Jahre später stürzt Rosalie in den Karton, in den ihre Eltern sich eingesperrt haben. Rosalie ist verletzt, hat eine blutende Wunde am Knie, aber das interessiert ihre Eltern ebenso wenig wie die Frage, woher die Tochter kommt und was sie in den vergangenen sechzehn Jahren gemacht hat. Frau Werner hat vollauf zu tun mit ihrer Hauptbeschäftigung, dem Kochen von Marillenmarmelade. Sie und ihr Mann haben nur Vorwürfe für die Tochter, die den guten Ruf der Familie ruiniert hat.
„Die muss weg“, sagt Herr Werner (Bernd Birkhahn), der schwerfällig herumtapert und sich gelegentlich altersgeil an seiner angewiderten Gemahlin zu schaffen macht. Kostümbildner Korbinian Schmidt hat den Eheleuten durch Ganzkörperanzüge, über denen sie ihre spießige Kleidung tragen, ein groteskes Aussehen verpasst.
Rosalie will mit ihren Eltern reden, was jedoch unmöglich ist. Vor allem für Frau Werner ist jede verbale Äußerung einer anderen Person ein Angriff, der sofort pariert und zurückgeschlagen werden muss. Es gibt keine Gespräche, nur Worte und Widerworte. „Im Zweifel ist man stets dagegen“ sagt Frau Werner, die nur klare Aussagen und kein Nachdenken kennt.
Mit dem Auftauchen der Tochter bei ihren Eltern treffen zwei unvereinbare Kulturen aufeinander. Rosalie begreift schnell, dass sie den Karton nun nie mehr verlassen kann. Grässliche Erinnerungen an ihre Kindheit überfallen sie. Trotzdem versucht sie immer wieder, mit ihren Eltern zu reden, vor allem, nachdem sie bemerkt hat, dass ihre Mutter heimlich den Karton verlässt.
Einen sehr spannenden Augenblick lang scheint es eine Wende zu geben, denn Herrn Werner ist aufgefallen, dass ihm Geld im Portemonnaie fehlt. Aber Frau Werner , die ihren Gemahl schon lange mit kleinen Dosen Gift in der Marillenmarmelade manipuliert hat, hat nun die finale Dosis in die Konfitüre gemischt, ihr Ehemann und ihre Tochter hauchen – nein, kotzen – ihr Leben aus und alles bleibt im Karton.
Yade Aysemir Önder, 1985 in Wiesbaden geboren, hat eine grandiose, sprachlich faszinierende Kritik zur Institution Familie geschrieben.
Alle drei Stücke wurden vom Publikum mit großem Applaus honoriert. Die Jury hat in diesem Jahr hervorragende Arbeit geleistet.