Ausgestruwwelt? „Das Weihnachtsgeschenk“ bleibt im Struwwelpeter Museum – Serie zum Zweihundertsten Geburtstag: der Heinrich Hoffmann Sommer 2009 in Frankfurt am Main (Teil 10/10)

"Papa, wir gratuliren Dir!", sagen zu seiner 50jährigen Doktorfeier als Arzt 1883 seine literarischen Gestalten, die ihn weltberühmt machten.

Mit seinem morgigen Todestag gibt es noch einmal einen „Allerseelen-Spaziergang“ über den Frankfurter Hauptfriedhof mit Besuch der Grabstätten auch der anderen Berühmtheiten seiner Zeit, die Björn Wissenbach sicher wieder – gekleidet in die damalige Tracht – lebendig werden läßt. Wir aber sausen flugs ins Struwwelpeter Museum, weil dort zu sehen ist, wie das überhaupt alles anfing, was den Heinrich Hoffmann Sommer auch überdauert, denn die dortige Ausstellung „Das Weihnachtsgeschenk“ ist bis zum nächsten Frühjahr zu sehen und wird auch danach ihren Platz in der ständigen Ausstellung des Hauses behalten, ist doch dieses Weihnachtsgeschenk der Beginn all der Struwwelpetereien, die nach und nach entstanden.

Also noch einmal von vorne: Da lief der willige, aber zunehmend zermürbte Vater eines dreijährigen Sohnes in der Frankfurter Innenstadt herum, wo es sicher nicht weniger, sondern mehr Buchhandlungen gab als heute, und suchte und suchte und fand nicht: das Bilderbuch, das er seinem Sohn Carl gerne zu Weihnachten schenken wollte, damit dieser an Bildern und Text Spaß habe, aber auch schon etwas lerne und mit den Farben und Formen im gewünschten Buch etwas anfangen könnte, damit er auch danach gerne ein weiteres Buch in die Hand nähme. So stellen wir uns die Gedanken des pädagogisch einwandfreien Vaters vor und tatsächlich hat er viel später sogar ausführlich dargelegt, daß er in den Buchhandlungen Kinderbücher wie Bleiwüsten vor sich gesehen habe, überhaupt nichts Kindgerechtes und auch nichts, was spannend gewesen wäre.

Also setzte sich der gute und doch emsig beschäftigte Arzt und Frankfurter Lokalpatriot Heinrich Hoffmann an seinen Abenden hin und erfand erst Kinder, denen er Geschichten auf den Leib schrieb, reimen sollte sich das auch noch und zudem bunt und ansprechend daherkommen. Und so lag Weihnachten 1944 ein handschriftliches Manuskript auf dem Gabentisch des kleinen Carl, in dem die ersten Geschichten von Jungen, die übertreiben oder töricht sind oder auch bösartig in Wort geschrieben und in Bild gezeichnet waren und das einzige Mädchen, Paulinchen mit dem Feuer ,war auch schon dabei. Schnell sprach sich in der Stadt Frankfurt herum, was dieser Tausendsassa da wieder hinbekommen habe und seine Freunde aus der Gesellschaft Tuttifrutti legten ihm nahe, dieses Manuskript doch drucken zu lassen.

Und längst kommt die Ausstellung „Das Weihnachtsgeschenk“ ins Spiel, die die Leiterin des Struwwelpeter Museums, Beate Zekorn-von Bebenburg im eigenen Haus eingerichtet hat, und wo man jetzt das Urmanuskript sehen kann! Und nicht nur das, sondern philologisch und psychologisch führt einen die Ausstellung zu den Vorläufern zurück, die Heinrich Hoffmann kannte, bevor er sein Werk zu Papier brachte. Das nimmt ihm nichts von seiner Besonderheit, zeigt aber, daß da schon viel in der Luft lag, als Heinrich Hoffmann die vielen Geschichten in seinem Struwwelpeter bündelte. Toll ist schon mal die Geschichte vom Suppenkasper. Denn, was uns heute am liebsten ein vorausschauender Psychiater Heinrich Hoffmann ist, der eine Modekrankheit unserer Zeit schon damals diagnostizierte und im Suppen-Kaspar Gestalt werden ließ, das stimmt so nicht ganz, denn die Magersucht, die Anorexia Nervosa, war damals noch kein geläufiges Krankheitsbild, wohl aber hatte eine Gerichtsmediziner Dr. Casper aus Berlin in einer medizinischen Fachzeitschrift im Sommer 1844 vom ersten bekannten Fall eines Hungerstreikenden berichtet, in allen Details, wie Tag für Tag der Lebenswille mehr versagt, bis er nach 10 Tagen tot ist. Auch das ist in der Ausstellung zu sehen und auch ohne schriftlichen Beweis kann man sich gut vorstellen, daß der Suppen-Kaspar historisch und namentlich vom Dr. Casper herrührt.

Und die Ausstellung bringt einem auch andere Vorbilder nahe und zeigt sowohl ihre Geschichten wie auch Bilder, die Vorlagen sein können. Denn die wirkliche gesellschaftliche Leistung des Heinrich Hoffmann, das erkennt man immer mehr, ist, daß er aufgreift, was in der Luft liegt, das er kompiliert, was als Einzelphänome herumschwirren. Da gibt es zum Beispiel von 1840 von Paul Gavarni einen Suppenkasper, der Haare an den Fingern hat, was auf die ’Löwenpomade` zurückzuführen ist, die in den Zeitschriften als Haarwuchsmittel angepriesen wurde. Man erfährt aber gleich darauf auch für die Zukunft, was die ’langen Haare` für eine Symbolkraft hatten und haben. Das ist ja unserer Zeit mit den Pilzköpfen der Beatles und den Langmähnigen der Achtundsechziger nichts Neues, daß lange Haare Ausdruck einer politischen Gesinnung gegen das Establishment sind und eine ordentliche Frisur die Gegenrevolution bedeutete. Aber was an Kuriositäten in einem Buch von 1793 über Haarmoden verzeichnet ist, das bringt einen mitten in der Ausstellung laut zum Lachen, aber da man nicht die einzige ist, fällt das weiter nicht auf.

Aber daß es schon zuvor einen weltberühmten Strubbelpeter schon im 18. Jahrhundert gegeben hat, das war uns völlig neu und ist berichtenswert: denn „Frankfurter Strubbelkopf“ wurde Johann Wolfgang Goethe von seiner Zimmerwirtin in Leipzig genannt und wenn man genau hinschaut, fängt man an, die zumindest äußere Verwandtschaft der beiden Frankfurter zu erkennen. Weltbekannt alle beide. Der eine für seinen äußeren Kopf, die Haare, der andere, was er in seinem Kopf erdichtete und ersann. Noch aber war der Struwwelpeter ja noch gar kein Buch. Das geschah erst nachdem sein Futtifruttikollege und Verleger mit einem Vorschuß im Oktober 1845 das Buch drucken ließ. Allerdings waren Titel und Verfasser gegenüber unseren klassischen Struwwelpeter-Ausgaben noch andere, wie auch die Geschichten, die wir heute kennen, noch nicht vollständig waren. „Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3-6 Jahren“ hatte ein gewisser Reimerich Kinderlieb verfaßt, aber nachdem schnell der Erfolg da war, auch Übersetzungen ins Ausland – die erste 1847 ins Dänische – das Buch international begleiteten, bekannte sich zur fünften Auflage der Mediziner und Frankfurter Bürger zu seinem Struwwelpeter, den man auch heute eine Kultfigur nennen kann, die das berühmteste Kinderbuch der Welt darstellt und allein hierzulande über 600 Auflagen hat und zudem in alle deutschen Dialekte übersetzt ist.

So blieben wir, obwohl die Ausstellung nur den einen großen Saal umfaßt, weit mehr als zwei Stunden gebannt vor den Vitrinen stehen, denn zu lesen gibt es viel und zu schauen auch. Dort liegen auch zwei Kinderbücher, die noch aus der Kindheit des Arztes stammen und die er gelesen hat, neben anderen Exemplaren, die also in dieser Ausstellung gleichsam eine Geschichte des Kinderbuches im 19. Jahrhundert mittransportiert. Hinzu kommen Kinderspielzeug, tatsächlich Originale von Reiterchen, Steckenpferd, Puppen und Puppengeschirr, die man aus Gemälden der Zeit kennt. Das tollste aber ist das große Gemälde gleich am Anfang. Da sieht man das bürgerliche Neuweihnachten der Familie Buderus, denn unser heutiges Fest des Schenkens und Besinnens mit dem geschmückten und erleuchtenden Tannenbaum, ist eine Erfindung der Biedermeierzeit. Und auf diesem Bild von 1866, das liebevoll und repräsentativ die Kinder und ihre Geschenke abbildet, liegt aufgeschlagen ein Struwwelpeterbuch als Weihnachtsgeschenk auf dem Tisch. Das kann man nicht toppen.

Im Struwwelpeter Museum:

„Das Weihnachtsgeschenk. Struwwelpeters Entstehung

Ausstellung bis 30. Mai 2010

Hauptausstellung im Historischen Museum: bis 21. September 2009

Katalog/Begleitbuch: Heinrich Hoffmann – Peter Struwwel.“ Ein Frankfurter Leben 1009-1894., hrsg. von Wolfgang P. Cilleßen und Jan Willem Huntebrinker , Michael Imhof Verlag 2009

Ausstellung im museum caricatura frankfurt: bis 20. September 2009

Katalog: Ja, es gibt ein Buch, das zur Ausstellung gehört. Nein, das läuft umgekehrt. Das von Fil und Atak beim Verlag Kein & Aber herausgebrachte Buch „Der Struwwelpeter“ ist die Grundlage, denn hier im Museum hängen dessen Originalzeichnungen von Paulinchen und den anderen Unhelden, mache richtig schön groß, und wenn man sich in die hineingeschaut hat, dann nimmt man auch gerne das Buch als Erinnerung, oder zum Weiterlesen, oder als Geschenk mit.

www.hoffmann-sommer.de
www.struwwelpeter-museum.de
www.frankfurterbuergerstiftung.de
www.historisches-museum.frankfurt.de

Gängige Struwwelpeterausgaben: Der Struwwelpeter. Mit einem Nachwort von Peter von Matt, Reclam, Stuttgart 2009
Der Struwwelpeter, Schreiber, Esslingen 1992
Neue Bücher über Heinrich Hoffmann
Heinrich Hoffmann „Dukatenbilder“, hrsg. von Marion Herzog-Hoinkis und Rainer Hessenberg, Inselverlag 2009, Insel-Bücherei Nr. 1314
Heinrich Hoffmann „Allerlei Weisheit und Torheit“, hrsg. von Marion Herzog-Hoinkis und Helmut Siefert, Mabuse Verlag 2009

Hinweis: Bis zu seinem Todestag am 20. September werden in Frankfurt viele Ausstellungen diesen Heinrich Hoffmann Sommer begleiten, über die wir berichten.

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