Berlin, Deutschland (Weltexpress). Angst kennt jeder, selbst der Mutigste. Denn Angst ist ein menschliches Grundgefühl wie Freude, Liebe, Wut oder Trauer. Das Gefühl der Angst gehört zu uns. Und wer mit Pferden zu tun hat, kennt Angst sowieso: Die Angst vorm ersten Ausritt, vorm ersten Galopp; die Angst vielleicht, sich überhaupt einem Pferd zu nähern; die Angst vor einem Tritt oder Biss; die Angst vor der Höhe; die Angst vorm Fallen; die Angst vor freiem Gelände; die Angst vor der Beengung der Halle. Und wenn man älter wird, und die Unbeschwertheit der Jugend verloren gegangen ist, dann drängen in gewissen Situationen Bedenken ins Bewusstsein, die sich zur Angst steigern können, „über die man früher gelacht hätte“.
Kaum eine menschliche Angst, die rund um das Thema Pferd nicht zum Ausdruck (oder Ausbruch) kommen könnte. Und wer weiß denn, ob nicht gerade manche derjenigen von Angst getrieben sind, die scheinbar besonders erfolgreich mit Pferden umgehen? Weil es ihre existenzielle (Lebens-)Angst ist, die sie immer weiter nach vorne treibt. Und wer weiß, ob sich hinter der Gewalt, die manche Menschen Pferden antun, in Wirklichkeit nicht ihre (verdrängte) Angst vor der Kraft des Pferdes angesichts der eigenen Schwäche verbirgt?
Am ehesten ist Angst zu beschreiben als ein als unangenehm empfundenes Gefühl von Bedrohung. Das zentrale Merkmal der Angst ist ein intensives seelisches Unbehagen, das Gefühl, dass man aktuelle oder zukünftige Ereignisse nicht bewältigen kann. Die Psychologie unterscheidet seit Sigmund Freud zwei Arten von Ängsten:
1. die Realangst: Sie ist ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Lebens, denn sie hat eine schützende, lebenserhaltende Funktion. Wir Menschen brauchen diese Angst um bedrohliche Situationen zu erkennen und auf sie reagieren zu können. Wer sich weigert, auf ein Pferd zu steigen, das als Buckler, Steiger oder Durchgänger bekannt ist, der ist kein Angsthase, sondern klug. Wer es ablehnt, ein unerzogenes Pferd zu reiten, weil er weder über ausreichende Fähigkeiten noch ausreichendes Wissen verfügt, zeigt Verantwortung sich selbst und dem Pferd gegenüber. Derlei Ängsten zu folgen, ist Ausdruck von Intelligenz, obwohl dies Verhalten in Reiterkreisen nicht immer angesehen ist.
2. die neurotische Angst: Sie wirkt hemmend und lähmend und kann damit selbst zur Bedrohung werden. Die neurotische Angst speist sich „aus inneren Quellen“ des Menschen, das heißt: aus so genannten Traumata, das sind unbewusst empfundene seelische Verletzungen und unbewältigte Konflikten aus der Vergangenheit. Solche Traumata verzerren die Art wie der Mensch die Realität wahrnimmt.
Die Abgrenzung von neurotischen Ängsten zu den so genannten Phobien ist undeutlich. Im Wesentlichen werden drei Formen der Phobie unterschieden:
a. Spezifische Phobien: Ängste vor bestimmten Objekten oder Situationen, wie Tieren – häufig Spinnen oder Schlangen, geschlossenen Räumen oder großer Höhe.
b. Agoraphobie: die Angst vor offenen, öffentlichen Plätzen und entsprechenden Situationen (etwa öffentlichen Verkehrsmitteln oder belebten Einkaufszentren), denen man nicht leicht entkommen kann. Agoraphobiker neigen dazu, im Lauf der Zeit immer mehr Situationen zu meiden, bis sie schließlich ans Haus gefesselt sind.
c. Soziale Phobien: Hierbei hat der Betroffene schreckliche Angst, in einer sozialen Situation, in Gesellschaft, bei einem Vortrag, bei Prüfungen, dumm oder verlegen zu wirken.
Eine spezifische Phobie hat jemand, der schon beim Gedanke, sich einem Pferd nähern zu müssen, Herzrasen bekommt. Als Reiter die Sorge zu haben, runter zu fallen, hat indes nichts mit einer Phobie zu tun, kann eine realistische Einschätzung sein, aber durchaus auch dem Formenkreis der neurotischen Angst entstammen. Ich hatte einmal eine Seminarteilnehmerin, die erst mit über 60 Jahren Reiten begonnen hatte. Die Frau, Ex-Nonne, war, nachdem sie ihr Kloster nach über 30 Jahren verlassen hatte, in eine schwere Depression gefallen. In der Therapie kam ihr Wunsch zum Ausdruck, reiten zu lernen.
Die Anfänge des neuen Hobbys verliefen vollkommen problemlos, bis sie nach geraumem Training zum ersten Mal galoppieren sollte. Sie verfiel schon beim Gedanken daran geradezu in Panik. Phobie oder „nur“ Angst? Alle „Überredungsversuche“ ihres Reitlehrers, alle gut gemeinten Vorsorgemaßnahmen, alles Wissen um die Gelassenheit ihres Schulpferds fruchteten nichts.
In unserem Seminar „Pferd und Lebensfreude“ erwähnte ich bei der Schilderung ihres Problems beiläufig, dann solle sie es doch bei Schritt und Trab belassen, wenn ihr das so viel Freude bereite. Die Reaktion der ansonsten sehr zurückhaltenden, in sich gekehrten Frau glich einem Vulkanausbruch: Sie wolle aber galoppieren! Zugleich haftete ihrem Temperamentsausbruch auch etwas Kindliches an. In der darauf folgenden Trance, die wir einleiteten, kam – zu ihrer eigenen Verblüffung – die aufschlussreiche Antwort auf ihre dringende Forderung an sich selbst: „Weil mein Vater und mein Bruder auch galoppiert sind!“ Diesen Zusammenhang hätte sie, wie sie sagte, „im Leben nicht gesehen“. Vom Verstand her glaubte sie, Themen wie „Männer sind besser und stärker“, „Das macht ein Mädchen nicht“, „Im habe kein Recht darauf“ längst abgehakt zu haben, im Reitunterricht flackerte das Thema indes plötzlich aus den Untiefen ihres Unterbewusstseins auf und drängelte ans Tageslicht.
Auch die Unterscheidung von Realangst und neurotischer Angst ist für manchen Betroffenen nicht so einfach auszumachen. Reagiert ein Reitanfänger neurotisch, wenn ihn Beklemmungen beschleichen und Schweißausbrüche heimsuchen, sobald er sich auf ein Pferd setzen soll, das ihm der Reitlehrer vorm Unterricht turnusgemäß zuweist? Vielen Reitlehrern fehlt einfach das notwendige Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse und Ängste ihrer Schüler. Abgesehen von ihrer Unfähigkeit oder Bereitschaft, die – ganz anders gearteten – Bedürfnisse und Ängste ihrer Pferde einschätzen zu können. Und das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass – nach meiner Erfahrung – so viele Reitschüler vom Pferd fallen. Deren Realitätssinn geht dann so weit, überhaupt nicht mehr aufs Pferd zu steigen.
Noch komplizierter wird es, wenn jemand mit seinem eigenen Pferd verunglückt, und sich nicht mehr auf dieses Pferd traut und auch nicht auf ein anderes. Möglicherweise war das Pferd nur schlecht erzogen und/oder schlecht ausgebildet. Je nach Charakter und Temperament eines Pferdes treten diese Mängel erst nach Jahren zu Tage. Was jahrelang gut gegangen ist, so die landläufige Auffassung, kann ja keinen Systemfehler bergen. Tut es aber doch. Ich bin immer wieder verblüfft zu sehen, wie viele Menschen auf schlecht erzogene oder schlecht ausgebildete Pferde steigen (oder von einem Reitlehrer draufgesetzt werden). Kein Mensch würde bei klarem Verstand ein Auto fahren, dessen Bremsen nicht richtig funktionieren und dessen Lenkung hakt. Auf genau derlei Pferde mit diesen Mängeln steigen täglich jedoch Tausende Menschen.
Schlechte Erziehung von Pferden scheint hierzulande (und auch anderswo) geradezu die Norm. Unter diesem Aspekt ist es leicht, vorderhand das Pferd für sein gefährliches und gefährdendes Verhalten verantwortlich zu machen. Die Folge: Es ändert sich nichts. Pferde werden nicht besser erzogen, weil ihr Verhalten ja „normal“ ist. Und Menschen werden verlacht, weil ihr (durchaus angebrachter) Realitätssinn in Sachen Angst nicht respektiert wird.
Und weil das so ist, kommt man möglicherweise auch seinen neurotischen Ängsten nicht auf die Spur. Wer sollte denn auf die Idee kommen, hinter dem Unfallereignis „tiefere“ Gründe zu vermuten? Die Schuldfrage ist ja geklärt. Dabei könnte jedes größere Ereignis, jeder „Schicksalsschlag“, Anlass sein, genauer hinzuschauen und hinzuhören. Gewiss, das gelingt unerfahrenen Menschen nur mit entsprechender fachlicher Hilfe. Aber es lohnt sich, danach zu suchen. Denn die Angst wird so zum Beginn von Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis und psychischer Gesundheit.
Ein Schicksalsschlag, ein Unfall als Anfang von irgendetwas „Gutem“? Schon im Sprichwort heißt es: „Wer nicht hören will, muss fühlen!“ Das heißt nichts anderes als: Wer im Leben nicht lernt, nach innen zu hören, auf die eigene innere Stimme, dem kann es passieren, dass ihm draußen, in der äußeren Realität, im „wirklichen Leben“, Dinge passieren, die sehr unangenehm sind. Die innere Stimme ist die Stimme der Reifung, der Entwicklung, die dafür sorgt, der oder die „zu werden, die wir sind“. „Erkenne dich selbst!“, lautete schon der Rat des antiken Orakels von Delphi .
Sprichwörter, ebenso wie Märchen, stammen aus der Zeit vor Entwicklung der modernen Psychologie. Da die menschliche Psyche (wie die aller anderen Arten auch) jedoch schon lange vor der Wissenschaft von der Psyche existierte, haben wir Menschen uns anders beholfen, um unserem Seelenleben auf die Spur zu kommen: In Sprichwörtern wird so manche Seelenlage auf den Punkt gebracht, und viele Märchen sind durchzogen von weisen Botschaften aus der Tiefe menschlicher Seele. Sie schildern Reifungsprozesse des Menschen.
Sprichwörter, Mythen und Märchen arbeiten mit Symbolen – sinnlich wahrnehmbare Gegenstände, Vorgänge, Erklärungen, die als Zeichen für etwas anderes stehen, das mit den fünf Sinnen auf direktem Weg nicht wahrnehmbar ist. Symbole werden in Kunst, Literatur, der Technik und in allen Wissenschaften verwendet, von der Psychologie bis zur Mathematik. Ob Verkehrsschild oder chemische Formel, ohne Symbole würden wir nicht weiter kommen. Ohne Symbole erreichten uns Informationen zu spät (oder gar nicht). Symbole sind insofern (über-) lebenswichtig. Schon für den Dichter und Universalgelehrten Johann W. von Goethe stellt in der Wirklichkeit prinzipiell alles Vergängliche nur ein Gleichnis dar. So heißt es in „Faust II“: „Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen und überall steckt noch etwas anderes dahinter.“ Auch in der Psychoanalyse von Sigmund Freud spielt das Symbol eine herausragende Rolle: Der als Verdrängungsvorgang gedeutete Umgang des Menschen mit seinem Unbewussten vollzieht sich, nach Freud, in symbolisch verschlüsselten Formen.
Auch die Psyche bedient sich also symbolischer Mittel – wie bei der Frau mit der Angst vorm Galopp. Möglicherweise waren die Auseinandersetzungen mit dem Vater oder dem Bruder seelisch so schmerzhaft und verletzend für sie als kleinem Mädchen, dass ihre Psyche den Vorgang komplett verdrängt hatte. Motto: Sonst tut’s zu weh! Aber der Mensch muss reifen. So sucht die sich entwickeln wollende Psyche „Aus- und Umwege“. Der Wunsch zu Reiten, entsprang – wie gesagt – dem therapeutischen Prozess zur Behandlung ihrer Depression. Innerhalb dieses Prozesses entdeckte die Psyche offensichtlich einen Weg der Annäherung zwischen der Frau und „ihren Männern“ – das Reiten eben, und innerhalb dessen: den Galopp. Das Thema „Galopp“ brachte die Frau ins Gespräch mit sich, der Beginn eines inneren Dialogs, an dessen Ende Bewusstheit und Versöhnung steht. Es geht in diesem Fall ja nicht ums Galoppieren, sondern um Themen wie: ihre Rolle als Frau, ihre Existenzberechtigung im Leben, ihren Mut, zu leben, ihren Selbstwert.
Wo die Psyche nicht lernt, mit Bedrohungen und Verletzungen angemessen umzugehen, sucht sie eben einen Ausweg, „Verdrängung“ genannt. Es ist ein erster, instinktiver Überlebensmechanismus, der uns allen eigen ist. Allerdings belastet er unser ganzes Leben, wenn die als real empfundene Gefahr vorbei ist, und hindert uns oft daran, uns im Leben angemessen zu entwickeln. Der unbewusste Schmerz wirkt weiter. Das ist wie mit den Mülleimern: Werden sie nicht regelmäßig ausgeschüttet, quellen sie über, und es beginnt zu stinken.
Das Wort „Angst“ kommt aus dem Lateinischen („angustiae“) und heißt ursprünglich: Enge. Angst, so betrachtet, bezeichnet also den Zustand der Enge. Und was hilft bei Enge? Ausweitung! Und genau darum geht es im Lebensprozess: uns auszuweiten, zu entwickeln, seelisch zu reifen. Die „neurotische“ Angst (nicht die Realangst!) ist also nichts anderes als ein (wenn auch schmerzliches)
Aufbruchsignal zur Entwicklung
Das Beispiel der Entwicklung des Schmetterlings symbolisiert diesen Vorgang sehr anschaulich: Zunächst ist der Schmetterling nichts als eine hässliche Raupe, die ständig Nahrung zu sich nimmt und unter regelmäßigen Häutungen auf das Hundertfache ihrer ursprünglichen Größe heran wächst, bis sie sich schließlich in einem riesigen Kraftakt aus der Verpuppung befreit und als wunderschöner Schmetterling erscheint. Uns Menschen sollte es nicht anders gehen. Allerdings geht’s bei uns nicht „von selbst“. Wir müssen etwas dran tun. Da in unserer Kultur die Beschäftigung mit dem Seelischen immer noch verpönt ist, scheuen wir den von allen Weisen zu allen Zeiten empfohlenen „Weg nach innen“. Unser Blick ist nach draußen gerichtet. Deshalb muss sich die Psyche auf anderem Weg Gehör verschaffen. Angst ist einer; Krankheiten, so genannte „Schicksalsschläge“ andere Wege der Seele, auf sich aufmerksam zu machen.
Das Thema „Angst“ ist in der Begegnung mit Pferden interessanterweise besonders präsent und zugleich, wie die Psychologin Monika Mehlem meint, „besonders tabuisiert, stärker als die Angst vor Hunden, vorm Fliegen oder die Angst im Dunkeln“. Und sie vermutet: „Vielleicht trägt die Tatsache dazu bei, dass in kaum einem anderen Bereich Angst, Bedürfnis und Leidenschaft so untrennbar miteinander verbunden sind, und der Kontakt mit Pferden auf so vielen verschiedenen Ebenen auf existentielle Weise an unsere Emotionen rührt.“
In der Tat: Pferde vereinen auf eine ganz spezifische Weise so scheinbar unvereinbare Gegensätze in sich wie Kraft, Schnelligkeit und Größe auf der einen Seite, sowie Sensibilität und Angst auf der anderen Seite. „Ein Pferd“, heißt es im Amerikanischen, „ist ein Gefühl auf vier Hufen“. Pferde repräsentieren dabei eine Vielzahl von Wünschen und Sehnsüchten: nach Freiheit, Größe, Stärke, Schnelligkeit ebenso wie nach Wärme und Weichheit und den Wunsch, getragen zu werden. Dazu kommt die ursprüngliche, animalische Seite, das Rätsel der Natur: das Unbändige, seine Wildheit.
In unserer Sprache taucht das Pferd als spezifischer Ausdruck von Gefühl auf: Da gehen einem „die Pferde durch“; ein anderer sitzt „auf hohem Ross“; wer „über die Stränge schlägt“, wird aufgefordert, „sich zu zügeln“. Und wenn alles nicht mehr hilft, muss er „an die Kandare“ genommen werden. Kein Wunder, dass das Pferd in der Psychologie des großen Schweizers C.G. Jung eine besondere Rolle einnimmt – als Symbol für den Affekt nämlich, jener heftigen Gemütsbewegung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Freiheit des Willens und die Fähigkeit zum klaren Denken erheblich zu beeinträchtigen vermag.
Wer sich dem Thema Pferd nähert – ob als Hobby oder im Beruf -, hat womöglich in seinem Unterbewusstsein die Entscheidung getroffen, auf diesem besonderen Weg seinen Gefühlen auf die Spur zu kommen, ja mehr noch, seinen Affekten: dem Unbändigen seiner Natur, den Möglichkeiten oder den Bedrohungen durch Freiheit, Kraft, Schnelligkeit und Größe; seiner sensiblen Seite, seiner Feinheit, seinem Wunsch nach Getragenwerden, nach Freundschaft.
In der „unerlösten“ oder unreifen Form wird er bestrebt sein, seinem Pferd enge Grenzen zu setzen, es übermäßig zu zügeln, es möglicherweise gar zu prügeln. Wenn Ängste hochkommen, kann er sie mit derlei Mitteln „bekämpfen“ oder aber: sich ihnen stellen. Dann beginnt Wandel und Wachstum – geistiges und seelisches. „Man wandelt nur das, was man annimmt“, sagt Jung. Sich der Angst zu stellen, bedeutet nicht, darin umzukommen. Ängsten kann niemand entkommen. Ihren Sinn zu entdecken, und ihren Sinn ins eigene Leben zu integrieren, macht stark und mutig. Jede Angst ist der Anfang von etwas Neuem. Angst kann das Aufbruchsignal zu einer großen schönen Reise werden, an deren Ende der Mensch stärker ist, freier, mutiger und größer.