Berlin, Deutschland (Weltexpress). Fast vergessen schlummert der Olympiasieg der DDR-Fußballer im Jahr 1976 in Montreal in den Tiefen der Sportgeschichte. Es ist gleichzeitig die beste Platzierung, die jemals eine DDR-Fußballnationalmannschaft bei einem internationalen Turnier erzielte. 1974 gab es zwar den 1:0 Sieg der DDR in der Gruppenphase gegen die BRD anlässlich der Fußball-WM in der BRD zu bejubeln. Doch dieser Triumph beim Spiel „Wir gegen Uns“ war schon nach ein paar Wochen ohne Wert, weil die DDR in der Zwischenrunde der WM ausschied und die BRD unter ihrem exilsächsischem Trainer Helmut Schön Weltmeister wurde.
Nach der WM 1974 formulierte der DFV (Deutsche Fußball Verband der DDR) sechs Forderungen, um den Fußball in der DDR voran zu bringen. Doch der übergeordnete DTSB (Deutscher Turn und Sportbund), unter seinem Chef Manfred Ewald, war kein Freund des Fußballs, der in der DDR Zuschauermagnet Nummer eins war. Ewald sah bei allen Mannschaftssportarten eine Verschwendung wertvollen Menschenmaterials. Aufwand und Nutzen standen für ihn in keinem Verhältnis. Ein Sprinter, eine Schwimmerin, ein Ruderer etc. konnte eine Goldmedaille gewinnen. Um im Fußball an Gold zu gelangen, brauchte es aber mindestens elf Spieler. Also bügelten Ewald & Co die Fußballfunktionäre mit ihren an westlichen Standards ausgerichteten Forderungen ab und verlangten, die Fußballer sollten die aus Individualsportarten abgeleiteten Erfahrungen „in jedem Fall“ berücksichtigen. Technik und individuelle Stärken durften nur temporär trainiert werden, das Hauptaugenmerk wurde auf Kraft und Ausdauer gelegt. Es gab tatsächlich einheitliche und regelmäßig überprüfte Trainingspläne für alle Fußballmannschaften, nach denen sich jeder Trainer richten musste. Viele DDR-Fußballer waren athletisch enorm stark, wahre Rennmäuse mit dem Ballgefühl grimmiger Grätscher. Elf sozialistische Holzfäller sollt ihr sein!
Natürlich waren die Spieler dank dieser kraftraubenden Maßnahmen häufig verletzt. Das war in der 1974/75 anstehenden EM-Qualifikation eine der Schwachstellen des DDR-Teams. Dazu kamen einige taktische Umstellungen in der Mannschaft durch Trainer Georg Buschner, der auf Kraft und taktische Disziplin setzte und meinte: „Wir spielen doch aber gegen Island und nicht gegen Italien“. Schon das erste Qualifikationsspiel ging in die Hose, 1:1 daddelte die DDR daheim gegen Island, und die fuwo (Fußballwoche) titelte in großen Lettern „ENTTÄUSCHEND!“ Enttäuschend bleiben die Leistungen der DDR und sie vergeigte in der Folge die EM-Qualifikation. Doch zum Glück blieb ja noch die Olympiade.
Für viele westliche Nationen war der olympische Fußball uninteressant. Sie schickten Amateurmannschaften ins Rennen, die meist in der Vorrunde ausschieden, so auch das DFB-Team. Nicht die DDR! Immer den Medaillenspiegel der Olympiade im Blick, meinten die Funktionäre, wenn man schon eine gute Auswahlmannschaft habe, könne man sie ruhig spielen lassen. Herausragende Sportler wurden in der DDR als „Diplomaten im Trainingsanzug“ bezeichnet. Internationale Erfolge im Sport galten als Aushängeschild des Sozialismus, errungene Medaillen demonstrierten die Überlegenheit des politischen Systems.
So ließen die Zonenfußballer Griechenland, Österreich und die CSSR auf der Strecke und schafften die Qualifikation zum olympischen Fußballturnier. Prompt wurde der DDR-Fußball aus dem DTSB herausgelöst und durfte ein eigener „Leistungsbereich“ sein.
Enorm wichtig war im Leben jedes DDR-Reisekaders die Rotlichtbestrahlung. So nannte der Volksmund die periodisch zu absolvierenden politischen Schulungen, in denen alle Spitzensportler über die Machenschaften des Kapitalismus aufgeklärt wurden. Alle Fußballer bestanden diese Prüfung mit Bravour. Es blieb ihnen auch nicht viel übrig, wollten sie ihren Sport weiter ausüben. Wer opponierte, flog aus dem Kader, verlor seinen Platz in einer Spitzenmannschaft und „durfte sich in der sozialistischen Produktion oder der Landwirtschaft bewähren“.
„In Anerkennung der gezeigten Leistungen“ wurden schließlich siebzehn DDR-Kicker ins Auswahlteam berufen. Alle waren Mitglieder der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Betreut wurde es vom Nationaltrainer Georg Buschner, einem Mann mit großem Selbstbewusstsein und großer Intelligenz, der schon 1974 in Hamburg beim 1:0 Sieg auf der Bank saß. Siebzehn Kicker im Einheitsgrau des DDR-Olympiaanzugs mit dem Emblem der DDR auf der linken Seite, schoben sich in die sowjetische IL -62. Neun Stunden Flug, ein Zwischenstopp. Erschöpft kamen sie in Montreal an und fielen in ihre Betten im pyramidenförmigen Hochhausblock. Die Wettkampfroutine begann schnell. Frühstück, Training, Massieren, Essen, Trainieren, Massieren, Essen, Schlafen. Es gab ein „Frauendorf“ und ein „Männerdorf“, der Übergang wurde von Polizisten streng überwacht.
Nach einem Unentschieden gegen Brasilien und einem Sieg gegen Spanien stand die DDR im Viertelfinale. Dort wurde Frankreich mit 4:0 vom Platz gefegt. Im Halbfinale war der große Bruder, die UDSSR, das nächste Opfer. Im Endspiel warteten die spielstarken Polen. Im Finale erhoben sich die DDR-Kicker zu ungeahnter Höhe und besiegten die Polen mit 3:1. Torwart Jürgen Croy und Libero Dixi Dörner waren die Sieggaranten gegen technisch brillante Polen, denen Trainerguru Buschner mit Turbofußball und internationaler Härte den Schneid abkaufte. Die DDR schoss zwei schnelle Tore, erst in der 59. Minute gelang Lato das Anschlusstor. In der 85. Minute schickte der Dresdner Schade den Dresdner Häfner auf die Reise, der zum 3:1 einlochte. Danach rannte Dribbeltier Häfner zur Eckfahne, hob die Arme zum Himmel und sank darnieder.
Zur späteren Siegerehrung schickte UDSSR-Trainer Lobanowsky nur zwei Funktionäre. Er war ungehalten über Platz drei und versagte der Mannschaft den Platz auf dem Podest. Indes DDR-Spieler und Polen feierten, pfiffen 70000 Zuschauer zwei sowjetische Funktionäre aus, die Lobanowsky zur Entgegennahme der Medaillen geschickt hatte. Die DDR-Spieler feierten weiter, am Ende wurden die Dresdner Häfner und Schade von zwei kanadischen Damen in deren Amischlitten eingesammelt. Häfner setzte sich der Legende nach hinters Steuer der heißen Bräute und scheiterte erst an der Automatikschaltung.
Zurück in der DDR waren die Fußballer ein paar Olympiasieger unter vielen. Erich Honecker sandte herzliche Glückwünsche, am Flughafen warteten die Familien und ein Bonzenspalier auf sie. Am erfolgreichsten hatten bei Olympia die Schwimmerinnen abgeschnitten. Auffällig damals ihre breiten Schultern und ihre tiefen Stimmen. „Die sind zum Schwimmen hier und nicht zum Singen!“, watschte Schwimmtrainer Gläser aufkommende Dopinggerüchte ab. Eine Schwimmerin darf später beim Olympiaball der DDR auch zu Honeckers Rechten sitzen. Die Fußballer landeten hingegen, außer Torwart Croy, nicht einmal auf dem Erinnerungsfoto fürs Protokoll. Für die Kicker blieb der Olympiasieg trotzdem das genialste Erlebnis ihrer Karriere. Einmal Olympiasieger – immer Olympiasieger. Außerdem wartete der Urlaub, die meisten fuhren an die Ostsee. Für die Dresdner Weber und Schade hatte ihr Club Dynamo Dresden hingegen Plätze im Erholungsheim des MfS (Ministerium für Staatssicherheit) gebucht. Darauf einen Broiler!
P.S.: Nicht ausnehmend ideologisch gefestigt zeigen sich die DDR-Fußballer in dem kürzlich erschienenen Buch: Montreal privat – Olympia ’76 und der Triumph der DDR-Fußballer. Autor Uwe Karte durfte in den privaten Fotoalben der vergessenen Olympiahelden stöbern und hat einige schräge Fotos zu Tage gefördert. Schon auf Seite 12 erfahren wir, wieso der DDR-Sozialismus im Weltmaßstab keine Chance hatte. Selbstzufrieden gucken uns zwei DDR-Kicker aus ihrem flauschigen Doppelbett an. Auf dem Bettkasten haben sie ihre Beute aufgereiht. Sie präsentieren dem Betrachter aber nicht die aufgespießten Köpfe der Imperialisten, sondern westliche Konsumgüter wie Softlan-Weichspüler, Nescafé oder eine Rolle Küchentücher. Klassenstandpunkt? Fehlanzeige!
Finale DDR-Polen am 31. Juli 1976 in Montreal, 71617 Zuschauer, Schiedsrichter Ramon Barreto (Uruguay), Tore: 1:0 Schade (7.), 2:0 Hoffmann (14.), 2:1 Lato (59.), 3:1 Häfner (84.), Gelbe Karten: Schade (DDR) Aufstellung DDR: Jürgen Croy – Hans-Jürgen Dörner – Gerd Kische, Konrad Weise, Lothar Kurbjuweit – Reinhard Häfner, Reinhard Lauck, Hartmut Schade – Wolfram Löwe (68. Wilfried Gröbner), Hans-Jürgen Riediger (86. Bernd Bransch), Martin Hoffmann, Trainer: Georg Buschner, Aufstellung Polen: Jan Tomaszewski (19. Piotr Mowlik) – Henryk Wieczorek – Antoni Szymanowski, Władysław Żmuda, Henryk Wawrowski – Zygmunt Maszczyk, Kazimierz Deyna, Henryk Kasperczak – Grzegorz Lato, Andrzej Szarmach, Kazimierz Kmiecik, Trainer: Kazimierz Górski
Das Buch zum Olympiasieg schickte dieser Tage der Verlag die Werkstatt auf den Markt: Uwe Karte, Montreal privat – Die unglaubliche Geschichte vom Olympiasieg der DDR-Fußballer, 192 Seiten, 24,5 x 16,6 cm, Hardcover, Verlag: Die Werkstatt, Göttingen 2016, ISBN: 3-7307-0301-4, Preis: 19,90 Euro