Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die soziale Kluft in Deutschland wächst, auch rund ein Viertel der Kinder leidet unter materiellem Mangel. Wirklich arm seien diese aber nicht, meint das Statistische Bundesamt, höchstens gefährdet oder bedroht. Mit akademischer Spitzfindigkeit rechnet die Behörde das Problem mal wieder klein. Sie relativieren die Kinderarmut.

Gibt es einen Unterschied zwischen armutsgefährdet und armutsbedroht? Was vielen zurecht wie akademische Pedanterie erscheinen mag, ist beim Statistischen Bundesamt gesetzte Wissenschaft. Die Behörde zählt nämlich 14 Prozent der Kinder in Deutschland, ein Siebtel, zur erstgenannten Kategorie und konstatiert gar einen „leichten Rückgang“ des Problems. Zugleich sortiert sie fast ein Viertel aller unter 18-Jährigen in die Schublade „armutsbedroht“.

Allein die Wortwahl stiftet Verwirrung: „Gefahr“ und „Bedrohung“ klingt etwa so, als lauere diese Armut lediglich in weiter Ferne und betreffe eigentlich noch niemanden real. Um ihr auch künftig zu entkommen, müssten sich Eltern und Kinder nur endlich selber richtig optimieren – ein kleines Meisterstück von vielen zur Verschleierung der Zustände im wertewestlichen Kapitalismus. Die neoliberale Propaganda grüßt.

Kreative Relativierung

So seien letztes Jahr rund 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Deutschland, 14 Prozent, „armutsgefährdet“ gewesen, teilte die Behörde mit. Sie gibt sich optimistisch: Erstens sei diese Quote bei Kindern damit niedriger als in der Gesamtbevölkerung, zweitens sei sie „leicht rückläufig“, denn ein Jahr zuvor habe sie „bei 15 Prozent gelegen“.

So geben es denn auch die Medien wieder, vorneweg die ARD-Tagesschau. Nur passt die Zahlenakrobatik nicht so ganz zu einem im März veröffentlichten Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes. Dieser konstatierte darin ebenfalls für das vergangene Jahr: „Auf einen neuen traurigen Rekordwert ist nach der Studie zudem die Kinderarmut gestiegen: Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen (21,8 Prozent). Unter Alleinerziehenden lag die Armutsquote bei 43,2 Prozent.“

Hier ist die Rede allerdings nicht von einer Gefährdung, sondern von Betroffenheit. Man findet darin auch keine zweite Kategorie, die das Statistische Bundesamt wie folgt beschreibt: „Im Jahr 2023 war knapp jede und jeder vierte (23,9 Prozent) unter 18-Jährige in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.“

Laut Statistikern sind also nicht alle armutsbedrohten Kinder zugleich armutsgefährdet, aber alle gefährdeten sind auch bedroht. Die Bedrohung scheint dabei noch weiter weg von „arm“ zu sein als die Gefahr. So relativiert sie trefflich mit kreativen Wortschöpfungen ein manifestes Problem.

Nur bedroht oder schon gefährdet?

Den Unterschied zwischen beiden Kategorien erklärt die Behörde dann sehr bemüht. Armutsgefährdet sei, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Bei einem alleinstehenden Erwachsenen habe diese Grenze 2023 bei einem Monatsnetto von 1.314 Euro gelegen, bei einer vierköpfigen Familie mit zwei Kindern bei 2.759 Euro.

Die „Armutsgefährdung“ von Kindern hängt laut Statistikern stark am Bildungsabschluss der Eltern. Hatten diese einen höheren akademischen Abschluss, treffe dies „nur“ auf knapp sechs Prozent des Nachwuchses zu. Bei Müttern und Vätern mit Abitur und Berufsabschluss waren danach 14,3 Prozent, bei Eltern mit Haupt- oder Realschulabschluss sogar fast 37 Prozent der Kinder „gefährdet“.

Armutsbedrohung sei hingegen, so die Behörde, „ein mehrdimensionales Phänomen“, das sich „nicht nur in finanziellen, sondern auch in sozialen Faktoren niederschlagen“ könne. Ein Phänomen ist bekanntlich etwas völlig Unerwartetes. Als sei diese „Bedrohung“ ganz unverhofft vom Himmel gefallen, ohne dass die gesellschaftlichen Umstände irgendwas damit zu tun hätten.

Diese Bedrohung beschreibe ein Risiko, heißt es weiter, für das eine von drei Bedingungen zutreffen müsse: Das Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze, der Haushalt ist „von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen“ oder die sogenannte Erwerbsbeteiligung im Haushalt der Person sei sehr gering.

Alles nicht so schlimm?

Man fragt sich immer noch: Wo ist nun der Unterschied zwischen „Armutsbedrohung“ und „-gefährdung“? Auch gibt es bekanntlich Superreiche mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung, die lieber andere für sich arbeiten lassen, weil sie es können. Diese meinen die Statistiker aber offensichtlich nicht.

So sind demnach also ein Viertel aller Kinder in Deutschland von Armut bedroht. Blickt man auf die erläuterten Kriterien, sind diese Minderjährigen und ihre Familien freilich arm – ein Viertel, das ist viel. Doch wer auf die Idee kommt, das so zu schlussfolgern, den beschwichtigt die Statistik dann weiter: Damit liege Deutschland EU-weit noch im guten Mittelfeld.

Es gibt also Länder im europäischen Verbund, wo es nach dieser Berechnungsmethode noch mehr Kinder trifft, zum Beispiel Rumänien (39 Prozent), Spanien (34,5 Prozent) und Bulgarien (33,9 Prozent). Auch in Griechenland, Italien, Frankreich, Luxemburg, der Slowakei, in Malta, Ungarn und Irland ist demzufolge ein etwas höherer Anteil der Kinder armutsbedroht als in Deutschland.

Alles nicht so schlimm? Unfug: Die akademisch umgedeuteten Schubladen beschreiben allesamt einen eklatanten materiellen Mangel im Vergleich zu großen Teilen der Bevölkerung sowie den (stark gestiegenen) Lebenshaltungskosten. Wer zu wenig Geld hat, kann sich nun einmal vieles Vorhandene nicht leisten. Der hat öfter Angst vor finanzieller Not, mehr Frust im Niedriglohnjob und so weiter. Soziale Teilhabe kostet auch.

Mit anderen Worten: Wenn die Kinder der weniger Armen ins Schwimmbad oder Kino gehen, gucken die Kinder der Armen in die Röhre, weil die Eltern ihr bisschen Geld für Miete, Strom und Essen ausgeben müssen. Die Klassenfahrt ist zu teuer, ein Familienurlaub gar nicht drin, Bus und Bahn sind Luxus. Für die Kinder ist in der Regel nach Schulschluss rumhängen angesagt, bestenfalls mit anderen Armen. Materieller Mangel geht immer mit sozialer Ausgrenzung einher.

Mit Worthülsen gegen wachsende Probleme

Egal, wie man es dreht, wendet, umsortiert und schönredet: Im gesamten „Wertewesten“ wächst die soziale Kluft zwischen Arm und Reich. Daran wird sich in der nächsten Zeit wohl wenig ändern, zumal das System in der imperialistischen NATO-„Gemeinschaft“ seinen ökonomischen Wachstumszenit ersichtlich überschritten hat – weshalb die Politik sogar auf Krieg setzt, und der ist nicht nur finanziell sehr teuer.

Man versucht es also mit Placebos und Worthülsen zur Volksberuhigung. In Deutschland etwa diskutiert die Ampelregierung seit Jahren über eine geplante „Kindergrundsicherung“, obwohl von dem schon mehrfach gestutzten Projekt fast nichts mehr übrig ist. Vielleicht wird es nun sogar ganz eingestampft.

Das unbehandelte, verschleierte Problem gräbt sich derweil weiter in die Gesellschaft ein: Die Aufstiegschancen für die nachwachsende Mittelschicht schwinden, die Konkurrenzkämpfe werden härter. Und während sich das Kapital in immer weniger Händen konzentriert, wächst die Zahl der Abgehängten und Perspektivlosen in der „schönen freien Welt“. Ob man das in Deutschland noch so sagen darf, ohne in der neuen Geheimdienstschublade „Staatsdelegitimierung“ zu landen? Wer weiß das schon.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Susan Bonath mit dem Titel „Akademisch-kreativ: Wie deutsche Statistiker die Kinderarmut relativieren“ wurde am 6.7.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

Siehe auch die Beiträge

im WELTEXPRESS.

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