Beide Anwärter umwerben nun jene Wähler, die in der ersten Runde gegen sie gestimmt haben. Mursi kündigte an, im Fall seines Wahlsieges zwei ausgeschiedene Kandidaten zu seinen Vizepräsidenten ernennen: Nasserist Hamdin Sabahi und den unabhängigen Islamisten Abu al-Fatuh.
Shafik beteuerte, dass es „kein Zurück“ gebe und die Mubarak-Ära endgültig vorbei sei. Er spricht vor allem die jungen Liberalen und alle an, die prinzipiell gegen die Islamisten votiert haben. Dazu gehören pro-westliche Liberale, Beamte und die Mittelschicht.
Wahl zwischen zwei Übeln
In der ersten Wahlrunde hat Mohammed Mursi zehn Prozent mehr Stimmen als Ahmed Shafik erhalten. Das ist nicht besonders viel, aber auch nicht besonders wenig.
Auf den ersten Blick haben beide Kandidaten ungefähr dieselben Chancen beim Wahlentscheid, obwohl die Islamisten einen kleinen Vorsprung haben. Sie haben viel mehr Anhänger als die Liberalen und sind besser organisiert. Ihnen würde es leichter fallen, Anhänger zu mobilisieren, die in der ersten Runde nicht in die Wahllokale gegangen sind.
Am wichtigsten ist aber für den künftigen Staatschef nicht der politische Kurs, sondern die Fähigkeit, das Wirtschaftsproblem in dem Land mit 80 Millionen Einwohnern zu lösen: Armut und Arbeitslosigkeit.
Unter Mubarak waren die Islamisten verboten: Der Wahlspruch „Islam löst alle Probleme“ fand vor allem Gefallen bei der armen und ungebildeten Bevölkerungsschicht (das sind immerhin 40 Prozent der Gesamtbevölkerung).
Wenn die früheren Oppositionellen jedoch an die Macht kommen, dann müssen sie beweisen, dass sie regieren können.
Auch General Ahmed Shafik wird es nicht leichter haben, wenn er die Stichwahl gewinnt. Er stützt sich vor allem auf die früheren Beamten aus der Ära Mubaraks und den jetzigen Militärrat von Marschall Tantawi, der im vergangenen Jahr stolze 19 Milliarden Dollar (die Hälfte der nationalen Gold- und Devisenreserve) verschwendet hat.
Land ohne Verfassung – Präsident ohne Vollmachten
Die Zukunft Ägyptens ist auch deshalb unklar, weil die Vollmachten des künftigen Staatsoberhaupts noch nicht definiert worden sind.
Unter Mubarak war Ägypten eine Präsidialrepublik mit einem Diktator an der Machtspitze. Nach seinem Sturz wurde die alte Verfassung abgeschafft, eine neue aber immer noch nicht verabschiedet. Die Arbeit an der neuen Verfassung ist dem Parlament vorbehalten, in dem 80 Prozent der Sitze den Islamisten gehören.
Die Legislative wartet jedoch ab. Falls Mursi zum Präsidenten gewählt wird, dann wird er wohl bei der Ausarbeitung der Verfassung mitreden wollen. Falls Shafik die Wahl gewinnt, dann werden die Islamisten seine Vollmachten wohl größtmöglich beschneiden und Ägypten in eine Parlamentsrepublik verwandeln.
Beziehungen zum Westen und Osten
Es ist kein Geheimnis, dass die „besonderen“ Beziehungen der ägyptischen Ex-Präsidenten Sadat und Mubarak zu den USA und dem Westen ein Unterpfand der politischen und wirtschaftlichen Stabilität des Landes waren.
Die radikalen Ismalisten (Salafiten) und ein Teil der Muslimbrüder wollen im Falle eines Wahlsiegs den 1978 in Camp David (USA) geschlossenen Friedensvertrag mit Israel außer Kraft setzen. Dabei lassen sie aber außer Acht, dass Kairo aufgrund dieses Abkommen jedes Jahr von den USA 2,2 Milliarden Dollar als Militärhilfe bekommt.
Darüber hinaus „vergessen“ die Salafiten, dass eine der wichtigsten Einnahmequellen der ägyptischen Wirtschaft der Suezkanal ist. Deshalb müsste der Muslimbruder Mursi im Falle seines Wahlsiegs nach Kompromissen mit dem Westen suchen und im Grunde dieselben Beziehungen wie sein Vorgänger pflegen. Das bedeutet, dass die Islamisten ihren aggressiven Ton gegenüber dem Westen ändern müssen.
Shafik müsste dem Westen „nur“ garantieren, an den bisherigen Beziehungen festzuhalten.
Die Islamisten aus der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei haben allerdings dem Chefbeobachter bei der Wahl, dem früheren US-Präsidenten Jimmy Carter, zugesichert, dass der Friedensvertrag mit Israel, der übrigens unter seiner Vermittlung unterzeichnet worden war, weiter in Kraft bleiben würde.
Auf den ersten Blick scheint Ägypten am Scheideweg zu stehen. In Wirklichkeit hat es aber keine Alternative, als die Wirtschaftsbeziehungen sowohl mit dem Westen als auch mit seinen arabischen Nachbarn zu erhalten, darunter mit den Ländern, in denen vor einem Jahr der „ arabische Frühling“ triumphiert hat.