Am Vorabend hat das Expeditionskreuzfahrtschiff den kleinen Pazifik-Hafen von Prince Rupert in der kanadischen Provinz British Columbia verlassen. Der Kapitän hat den Kurs abgesetzt auf die Inside Passage. Damit ist der gewundene und geschützte Wasserweg durch die Fjord-Landschaft gemeint, deren unzählige Schären und Inseln der Küste vorgelagert sind und deren kilometerlange Buchten sich tief in die Rocky Mountains einschneiden. Längserstreckung: ungefähr von Vancouver im Süden bis Seward bei Anchorage im Norden. Über tausende von Kilometern weit.
Kajak-Ladys ahoi!
Misty Fjord National Monument macht seinem Namen keine Ehre: die Sicht auf Berge und Wälder ist ausnahmsweise nebelfrei. „World Discoverer“ stoppt. Zwei Punkte lösen sich vom Anlegesteg. Sie entpuppen sich beim Näherkommen als Kajakfahrer und noch dichter dran – als zwei junge Frauen. Ungläubiges Staunen überall an Bord. Die Ausbootungsplattform wird klargemacht. Kräftige Matrosenarme hieven die Seekajaks samt Paddlerinnen durch eine Luke ins Schiffsinnere.
„United States Forest Service, Department of Agriculture“ verraten die Sticker auf den Uniformblusen von Julie Rowe und Jean Metz . Die beiden Rangerinnen sind uns von der Nationalpark-Verwaltung als Scouts zugewiesen worden.
Nach einem Tag mit den beiden wissen die Gäste mehr über das Revier, haben Seehunde, Weißkopfseeadler und wandernde Lachse beobachten können. Art und Zahl der Tiere werden in einer Übersicht an Bord notiert. Mit Schildchen gekennzeichnete Pflanzen, in Schalen von Moos und feuchter Watte gebettet, dienen als echtes Anschauungsmaterial. Zusätzlich liegen jede Menge Informationen aus. Wer mag, kann zu weiteren Studien die reichhaltige Bibliothek benutzen.
Als das Schiff den Misty Fjord verlässt, schießen die Lachse klatschend Karbolz – wie zum Abschied. Julie und Jen schwenken ihre Paddel. Sie erwartet Einsamkeit, die Passagiere einen „Recap“-Vortrag mit den geballten Informationen des Tages. Die Lektoren sind wieder gefordert.
Bord-Uni = Natur pur
Befragt, was sie an dieser Reise gereizt habe, hört man immer wieder: „Ich möchte gern unzerstörte Natur sehen, solange es so was noch gibt.“ Oder: „Was wir in diesem lebensnahen Unterricht mit direktem Praxisbezug dazugelernt haben, ist durch nichts zu ersetzen.“ Da kann es vorkommen, daß einer der Lektoren gerade über Wale referiert, während sie draußen real vorbeischwimmen. Die Begeisterung des Kapitäns für Landschaft und Tierwelt – „schon über zwanzigmal bin ich hier oben gewesen“ – geht mit ihm durch und läßt ihn immer wieder zum Mikrofon greifen: „Dies ist eine Durchsage von der Brücke. Meine Damen und Herren: Wale an Backbord!“ Nicht nur das: Er stoppt auch die Maschinen oder folgt den Tieren vorsichtig, damit jeder zum „Schuss“ kommen kann.
Zu Anker in der kleinen Elk Cove. Urwalddickicht bis ans felsige Ufer. Mächtige jahrhundertealte Stämme, von dicken Moospolstern überwuchert; meterlang die hellgrünen Flechtenbärte. Märchenhafte Stimmung: helles Licht, kräftige Farben – und eine absolute Ruhe. Bären-, Wolfs- und Elchspuren am Strand verheimlichen nicht die Gefahren dieser Idylle.
Alaskas Küstenregenwald zwischen Ketchikan und Kodiak ist, so erfährt man aus erster Hand von Professor Dr. Charles Wurster, der größte noch intakte der Welt. Er wird nicht umsonst das „Amazonasgebiet von Nordamerika“ genannt. Seit 1950 wurden allerdings 1400 Quadratmeilen abgeholzt. Die Nationalparkordnung hat das zum Glück gestoppt. Und damit letzte Refugien für Bären, Wölfe und Seeadler geschaffen.
Aufregung herrscht, als Dutzende von „Geysiren“ die dunkle Wald- und Felskulisse von Sail Island in weiße „Dampfwolken“ hüllen. Maschine Stopp und Boote zu Wasser! In einem Meer von Kelp-Tang, mit bis zu 200 Meter Länge – auch so ein Alaska-Superlativ – das größte Lebewesen der Welt.
Eisige Kanonenschüsse
„Die sind ja doppelt so hoch wie die Zugspitze!“ staunt so manches Alaska-Greenhorn beim Anblick der schneebedeckten und gletscherumflossenen Sechstausender. „Echte“ Sechstausender, denn ihre Höhe wird vom Meeresspiegel ab gemessen.
30 Kilometer Fjordfahrt hinein ins Super-Gebirge. Steilflanken stürzen aus Wolkenhöhe senkrecht ins Wasser. Schneegemsen geben akrobatische Vorstellungen.
Als das Schiff seine Nase um die nächste „Kurve“ steckt, geht ein hörbares Raunen durch die Passagiere, die dichtgedrängt Back und Brückendeck bevölkern. Ein wahres Prachtstück, dieses weiß bis türkisfarbene Gletscherpaar. Ihre innere Spannung zeigen ganze „Kanonensalven“ an, deren Donnerhall sich vielfach an den Felswänden bricht. An der über 100 Meter hohen Stirn tut sich was. „Das wird spektakulär“, fiebert Professor Wurster. Bis sich unter gewaltigem Grollen eine Eissäule in Hochhausformat löst. Von Beifall und Jubelrufen begleitet. Unter einer Wolke aus Gischt und Eiskristallen neigt sich der Koloß im Zeitlupentempo und rauscht in die spiegelglatte See, die sich Sekunden später zu mehreren Metern hohen Wellen aufwirft.
Auf historischem Boden
Langwellige Pazifikdünung hebt und senkt das Expeditionsschiff in gleichmäßigem Rhythmus. Seit Stunden nichts als graue Wasserberge ringsum. „Das muß Land sein“, vermutet der Relingsnachbar und zeigt auf einen dunklen, schmalen Streifen am Horizont. Durchs Fernglas sind die Konturen einer Insel auszumachen. Das Schiff hält auf die abweisende Steilküste zu, bis der Anker in den Grund rasselt. Zodiac-Schlauchboote werden zu Wasser gelassen. Wasserdicht und in Schwimmwesten verpackt brummen die modernen Entdecker zum drei Seemeilen entfernten Strand. „Ich komme mir selbst vor wie ein Entdecker“, meint Kurt, der Zoologe aus Rostock, ehrfurchtsvoll. Frische Bären-, Wolfs- und Fuchsspuren erinnern allerdings daran, wer hier heutzutage die einzigen Bewohner sind.
Oder etwa doch nicht? Hinter chaotisch von der See durcheinander gewirbelten Treibholzstämmen kräuselt sich plötzlich, kaum sichtbar, eine leichte Rauchfahne. Wenig später auf einer kleinen Lichtung im Ufergehölz ein Zelt. „Ich hab ´ mich schon über euern Dampfer gewundert“, kommt ein hagerer, bärtiger Vierziger der Gruppe entgegen. Seine Mundart ist unverkennbar: bestes Sächsisch. Das Erstaunen beiderseits ist groß. Er hätte hier niemals mit Reisenden gerechnet, und wir nicht mit einem Einsiedler. Robison alias Ullrich Wannhoff aus Dresden läßt grüßen. „Herzlich willkommen auf Kayak Island!“ Für die wenig historieverwöhnten Amerikaner eine echte Sensation. Als er dann noch Visitenkarten zückt mit Telefon- und Faxnummer, sind nicht nur sie sprachlos. Auch der Berichterstatter, als er hört, daß der künstlerisch ambitionierte Eremit schon zwei Mal auf Vortragsreise durch Mecklenburg-Vorpommern tingelte. Die Welt ist klein.
In wenigen Worten erzählt er seine Geschichte: Mit einem russischen Freund folgte er im Frühjahr per Sieben-Meter-Segelboot den Spuren von Vitus Bering. Von Petropawlowsk Kamchatski ging der Törn über die Kommandeurs-Inseln nahe der Datumsgrenze, an den Aleuten entlang nach Alaska. „Hier, an der historisch verbürgten Landungsstelle, schreibe ich mein Buch über Vitus Bering“, zeigt der Künstler eine reich illustrierte Kladde vor. Auf die Frage, wie er sich versorge, gesteht er: „Mit Trockennahrung. Zum Fischen fehlt mir nämlich das Boot, und über die Pilze weiß ich nicht so recht Bescheid.“ Ob er keine Angst vor Bären und Wölfen habe? Die würden einen großen Bogen um ihn machen, auch weil er das Feuer Tag und Nacht brennen lasse. Schlecht ist es um Hilfe in Notfällen bestellt. Nicht mal ein Funkgerät zählt zu seiner Ausrüstung. Kapitän Oliver Krüss lädt den Abenteurer an Bord ein. Frisch geduscht, satt gegessen und den Rücksack voller Lebensmittel wird Ullrich Wannhoff mit dem letzten Schlauchboot vor seiner Behausung abgesetzt. Zurück bleibt bald nur noch ein winkender Punkt. „Die Einsamkeit bei dem Wetter könnt ´ ich nicht ertragen“, schüttelt Bootsführer Robert Parthe den Kopf. Wie er freuen sich auch alle anderen auf die Geborgenheit unseres Schiffes.