Bleiben wir erst beim Lesen und dem Vorlesen. Wir hatten vor vielen Jahren Jonathan Franzen auf der Buchmesse mitten auf einem Gang getroffen und uns gewundert, wie er, der damals schon berühmte Autor, einfach mit einem redete, noch dazu auf Deutsch und fast eine halbe Stunde. Das hat sich geändert. Nicht das Deutsch, aber doch seine aus der Prominenz erwachsene Bewachung, für die es, wenn man die Zeitung aufschlägt, auch Gründe gibt, hatte ihm doch in London auf Lesereise gerade ein Irrer seine Brille entwendet. Nein, nein, da sind die Deutschen vor. Sie behandeln Jonathan Franzen sehr gut. Erstens lesen sie ihn, zweitens war seine Lesung im Frankfurter Schauspielhaus schon lange ausverkauft und ein Genuß, da er die Übersetzung seines gerade auf Deutsch im Verlag Rowohlt erschienen Romans „Freiheit“ auch exzellent an die Ohren und Herzen brachte. Und drittens haben nicht nur die vielen Hunderte bei der Lesung sich sein Buch signieren lassen, sondern auf der Buchmesse konnte man am Sonntag bestaunen, wie eine Riesenschlange sich um mehrere Ecken wälzte, alle mit dem neuen Franzen unter dem Arm, damit sie seine eigene Unterschrift ergatterten. Im Übrigen: das ist mal ein Starkult, der aus der Qualität kommt. Das ist ein wunderbares Buch, diese „Freiheit“ und wer es noch nicht gekauft hat, sollte das schleunigst nachholen. Auch ohne persönliche Unterschrift.
Und nun zu den Zahlen. Daß 7.539 Aussteller aus 111 Ländern auf der Buchmesse 2010 ausstellen, war bekannt und die rund 3.000 Veranstaltungen zogen Hunderttausende von Besuchern an. Der Besuch des allgemeinen Publikums am Wochenende war mit fast 300 000 vergleichbar dem Vorjahr und die Fachbesucher an den Tagen Mittwoch bis Freitag gingen leicht zurück, um 1,7 Prozent. Aber Zahlen sagen auf der Buchmesse noch weniger aus, als bei anderen Messen. Denn entscheidend ist das, was als Gefühl von Erfolg die Gekommenen mit nach Hause nehmen. Und da äußerten sich tatsächlich an allen Ständen, die wir befragen konnten, die Verlagsleute so glücklich, daß man das nicht auf die vielen Partys und Sektempfänge zurückführen konnte, sondern Vertragsabschlüsse und volle Terminkalender den Erfolg dieser Buchmesse bedeuten.
„Wir hatten einen regelrechten Energieschub auf dieser Frankfurter Buchmesse“, so Buchmesse-Direktor Juergen Boos zum Abschluß der fünftägigen Messe. „Das Geschäft mit den Inhalten – ob als klassisches Buch oder digital – hat dieses Jahr noch einmal zugelegt, und unsere Besucher zeigten sich auch dieses Jahr begeistert über das enorme Geschäftspotenzial in derart konzentrierter Form und auf internationalem Niveau.“ Das gilt in erster Linie für die deutschen Aussteller, die die Messeauswirkungen an den Geschäftsabschlüssen direkt ersehen können. Daß aber insbesondere die US-amerikanischen und englischen Aussteller die Messe als die beste seit vielen Jahren bezeichnen, ist ein sehr positives Zeichen, nachdem das vergangene Jahr von der Wirtschaftskrise und von Unsicherheit geprägt war.
Wichtig war auch, wie das Gastland Argentinien bei seinem Auftritt von den Buchmessenbesuchern und den Frankfurtern beurteilt wurde und wie umgekehrt der Ehrengast über das deutsche Interesse dachte: Mit dem Auftritt in Frankfurt sind unsere Träume in Erfüllung gegangen“, befand die Vorsitzende des argentinischen Organisationskomitees Magdalena Faillace. „Argentinien hat uns alle mit seiner Emotionalität mitgerissen und die Messe sehr erfolgreich geprägt“, so Boos. Und nicht nur er fand deren Auftritt, den „literarischsten seit Jahren“. Knapp 70 argentinische Autoren und über 100 Verlage waren in Frankfurt präsent, über 300 Veranstaltungen zu Argentinien fanden statt. Auffällig ist bei der gegenwärtigen argentinischen Buchproduktion, daß rund ein Drittel sich mit der Aufarbeitung, der eigentlich 26 Jahre zurückliegenden Militärdiktatur beschäftigt.
Da können die Deutschen mitreden. Denn es gehört zu den gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozessen von schlimmen nationalen Exzessen immer auch, daß dies schubweise geschieht. Auch in Argentinien mußte man sich erst einmal an freie Luft gewöhnen, fing dann noch lange nicht mit der Vermißtensuche an, machte diese aber in den letzten 15 Jahren überall zum Thema. Und jetzt sprießt es überall hervor, was zuvor abgedeckt war und als Mehltau über der Argentinien lag. Die vielen Lesungen mit Argentiniern wurde – wie überhaupt auch die Lesungen im Stadtgebiet – von sehr vielen genossen. Für viele Besucher hat sich dieses Land erst jetzt durch seine Literatur erschlossen.
Das gilt für den Inhalt. Was uns nicht gut gefallen hat, war die Präsentation des Gastlandes im zweiten Stock des Forums, was die äußeren Gegebenheiten angeht. Wir glaubten immer gleich zu fallen, weil der Boden Höhen und Tiefen hatten und dachten, das sei eine Anspielung auf die geschichtlichen Situationen Argentiniens. Dann war der große Raum gewissermaßen zersiedelt, diffus im Licht und ohne die Klarheit, die eigentlich unter der starken Sonne Argentiniens herrscht durch Licht und Schatten, aber nicht durch grauen Nebel, wie es uns hier vorkam, wo man nicht einmal den herrlichen Sonnenschein draußen sehen konnte, der über dem Platz bis zur Halle 4 hinüberlag, der schönsten Sicht auf die Messe. Sonst.
Was allerdings Claudia Piñeiro angeht, die 1960 geborene argentinische Schriftstellerin, sollte man die Literaturtips gleich weitergeben. Sie wurde direkt vor der Buchmesse mit dem LiBeraturpreis 2010 ausgezeichnet, der Autorinnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika gilt, die vom Buchmarkt erst einmal nicht besonders gefördert werden. Die Ehrung erfolgt immer für ein Buch. Hier „Elena weiß Bescheid“ aus dem Unionsverlag, der auch ihre weiteren verlegt und überhaupt sehr viele Autoren aus den genannten Kontinenten veröffentlicht. Wir kannten und liebten das Buch und lasen schnell den Vorgänger „Ganz die Deine“. Die Frau kann schreiben! Eine völlig andere Geschichte und auch ein anderer Stil. Und wiederum anders liest sich das ganz neue, ebenfalls aus dem Unionsverlag: „Die Donnerstagswitwen“. Wir sind noch mittendrinnen und werden berichten.
Aha, der eigentliche Indikator auf der Buchmesse für den kommenden Bucherfolg ist die Höchstzahl der geklauten Bücher, heißt es. Und demnach wird am allermeisten von Ken Follet „Sturz der Titanen“ aus dem Lübbe Verlag verkauft werden. Ken Follet hat wieder einen im besten Sinne Bildungsroman geschrieben. Das wissen wir schon nach den ersten Seiten. Es geht um eine Familiensaga über Jahrhunderte, in der er einen gleich verwickelt, so daß man unbedingt wissen will, wie das weitergeht. Demnächst mehr. Aber auch der Hinweis, daß im Lübbe Verlag ebenfalls eine solche Perle erschienen ist wie „Der Concierge“ von Jürgen Carl, wo er – der gute Geist des Hauses hinter dem Empfangstresen – aus dem Nähkästchen seiner Jahrzehnte als Concierge im Frankfurter Hof Steigenberger erzählt und gleichzeitig die Guten beim Namen nennt, aber auch für die häßlichen Gäste und die, die den Fernseher klauen wollten, noch deren Beweggründe analysiert. Ein feines Hotel, ein feiner Mensch, ein feines Buch.
Fein ging es auch bei der Friedenspreisverleihung für David Grossmann zu, dem Festakt am Sonntag, der jeweils zum Höhepunkt und Ankündigung des Endes der Buchmesse geriert. Joachim Gauck hielt eine so intellektuell glänzende wie menschlich bewegende Rede, der der anwesende Bundespräsident Christian Wulff hoffentlich sehr genau gelauscht hat, wie man nämlich komplizierte Sachverhalte mit Hilfe der Sprache klärt, statt sie zu verunklären. Was Schriftsteller von den Politikern allgemein unterscheidet, zeigte dann auch noch der Preisträger in seinen Dankesworten, in denen er seinem Land Israel eine neue Chance und die Kraft der Selbsterfindung wünscht, die für ihn derzeit nur in der Zwei-Staaten-Lösung liegen kann. Großer Beifall.
Info:
Die Frankfurter Buchmesse ist mit über 7.000 Ausstellern aus mehr als 100 Ländern die größte Buch- und Medienmesse der Welt. Darüber hinaus organisiert sie die Beteiligung deutscher Verlage an über 25 internationalen Buchmessen. Die Cape Town Book Fair in Südafrika sowie die Abu Dhabi International Book Fair sind Partnermessen. Mit www.buchmesse.de unterhält sie das weltweit meist genutzte Portal für die Verlagsindustrie: Rund 31.000 Einträge umfasst das Personenverzeichnis für Entscheidungsträger der Buch- und Medienbranche. Frankfurt SPARKS, die digitale Initiative der Frankfurter Buchmesse, vereint digitale Produkte und Projekte der Branche unter einem Dach, mit dem Ziel, Inhalte und Technologie zusammenzubringen. Die Frankfurter Buchmesse ist ein Tochterunternehmen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
Lesung von Claudia Piñeiro am 12. Oktober in Leipzig!