„Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“ verfeinert eine Geschichte wie aus der „La Petite Parisienne“ mit spöttischer Gesellschaftskritik und Elementen der klassischen Kriminalgeschichte. Jeder Anhaltspunkt führt Blanche, die als Mädchen für besonders ausgefallene Lustspiele dem Spottnamen der anderen Huren treu bleibt, vor ein weitere verschlossene Tür. Die Wendeltreppen und verzweigten Gänge des Pompadour umfangen Blanche wie ein Irrgarten, der zu wachsen scheint mit jedem Meter den sie ihn ergründet. Agathes Mörder wächst in ihren Alpträumen zum vielköpfigen Monstrum. Das im Kellergewölbe des Pompadour haust, das zu betreten die anderen Figuren sie warnen und verlocken. Im ersten Band ergründeten Hubert & Kerascoet gemeinsam mit „Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“ Milieu und Charaktere, in deren moralische und seelische Abgründe die Fortsetzung eintaucht.
Die Handlung zentriert sich im Pompadour, das zum Symbol für die Gesellschaft wird. Hinter der prunkvollen Fassade lauern Laster, Korruption und bestialische Gewalt. Das Mysterium von Paris, dem „Die Jungfrau im Bordell“ sich nährt, ist perfider, als sie oder der Leser ahnen. „Das perfekte Verbrechen auf einem Silbertablett.“ erschreckt weniger durch seine Ausmaße, als durch die seelische Grausamkeit. In den schillernden Facetten des zeichnerischen Kleinods funkelt die Philosophie eines De Sade. In nonchalantem Ton kokettieren die Figuren mit der Perversion. Niemand ist, wer er scheint. Ein täuschende Verkleidung ist die harmloseste Form der Verstellung. Selbst durch das eigene Spiegelbild können einem die Augen eines Fremden entgegen starren, denn alles hat im Pompadour einen doppelten Boden.
„Sie war ein Bild von Unschuld und Ruhe –
Da packt sie plötzlich die böse Katze
Und würgt sie mit der grimmigen Tatze,
Und beißt ihr ab das arme Köpfchen,
Und spricht: Mein liebes, weißes Geschöpfchen,
Mein Mäuschen, du bist mausetot!“
(Heinrich Heine)
Nichts werde in Paris so gut bewacht wie die Bordelle, die eines der Freudenmädchen mit einem Glaskäfig vergleicht. Kein Eindringling soll spionieren, kein Laster ihre Mauern verlassen. Dank verborgener Gucklöcher katalogisiert die Bordellvorsteherin sie sorgfältig, personifiziertes gewissenloses Gewissen der Mächtigen. Der karikatureske Zeichenstil entwirft das pointierte Sittengemälde einer skrupellosen Klassengesellschaft. Wer sich einen letzten Rest Menschlichkeit bewahrt, endet wortwörtlich auf der Schlachtbank. Ob es die des Staates ist oder von Verbrechern ist einerlei. Die befriedigten Gesichter davor sind die gleichen.
In Frankreich wird bereits der fünfte Band von „Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“ erwartet. Die eine in sich geschlossene Erzählung ergebenden ersten beiden Bände sind vielschichtiger, als es der reißerische Klang ihrer Titel verrät. Unbarmherzig enthüllt der Comic politische und soziale Mechanismen, die Sanftheit in Sadismus verkehren und der Unschuld wird auf dem Schafott der Garaus gemacht wird. Ein symbolischer Akt, den praktisch existiert sie nicht. „Blut an den Händen“ tragen alle, mag Blanche ihre auch in die nächtlichen Fluten der Marne tauchen. Stille Wasser sind tief.
Die zynische Pointe ihres Sittengemäldes besiegeln Kerascoet & Hubert im doppelbödigen Schlusssatz des „Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“. Und die Moral von der Geschicht ´ ? Mädchen, weich vom Wege nicht! Doch nicht die Tugendhaftigkeit ist gerettet, sondern ihr Anschein. Ein noch viel kostbareres Gut, das sorgfältig gehütet werden muss. Mehr fordert die Gesellschaft nicht. „Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“ hat seine Lektion gelernt.
„Mais hélas ! qui ne sait que ces Loups doucereux,
De tous les Loups sont les plus dangereux.“
(Le Petite Chapron Rouge)
Titel: Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An – Blut an den Händen/ OT: Miss Pas Touche/ Autor: Hubert/ Zeichner: Kerascoet/ Verlag: Reprodukt/ Jahr: 2010/ Seiten: 49