„Et que ce n’est pas chose étrange,
S’il en est tant que le Loup mange.“
(Le Petit Chapron Rouge)
Autor und Szenarist Hubert und das französische Autorenduo Marie Pommepuy und Sébastien Cosset, das sich hinter dem Künstlernamen Kerascoet verbirgt, spielen zum erotischen Kriminaltango auf. Das Paris der Zwischenkriegsjahre ist die düster-schillernder Kulisse des naiv-abgründigen Milieupanoramas ihrer Graphic Novel „Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“. Agathes sittsame Schwester Blanche faucht die Worte unablässig. Pas Touche. Pas Touche. „Miss Pas Touche“ lautet der Originaltitel der im Verlag Reprodukt erscheinenden Comicreihe, die in Frankreich bereits vier Bände umfasst. Der zweite Band „Blut an den Händen“ ist ebenfalls bei Reprodukt bereits erschienen, der dritte soll im Dezember folgen.
Selbstmord murmelt die Polizei ,dem „Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“, als ihre Schwester Agathe tot in der gemeinsamen Dachkammer liegt. Skandal, wispert die Hausherrin, die Blanche vor die Tür setzt. Verschüchtert steht das Fräulein aus der Provinz mit der Unberührtheit im Namen allein in der grausamen Welt. Der Schlächter, der in der drolligen Szenerie umgeht, hat Agathe umgebracht. Das steht fest in Blanches klugem Köpfchen, dessen Gedankenwelt als einzige von den Sprechblasen enthüllt wird. Im exklusiven Freudenhaus Pompadour spürt „Die Jungfrau im Bordell“ dem Schlächter der Guinguettes nach. Ihr detektivisches Gespür lässt Ahnungen zu finsteren Gewissheiten werden. Die Zeichnungen verraten auf den zweiten Blick feine Details, die den Figuren entgehen. Jeden Schritt Blanches umfängt eine beständige Bedrohung. Aus den Augenwinkeln erhascht sie die Gefahr, die sich bei jedem Umdrehen verbirgt.
Das Missgeschick der Tugend
Frivolität und Frisson verschmelzen zu einer prickelnden Studie in Scharlach. In den satten Farben Huberts pulsieren Blutrausch und Rotlichtmillieu um die schreckensbleiche Blanche. Für die Bordellaufseherin ist die zarte Erscheinung „Ein perfekter Unschuldsengel…“ Damit „Die Jungfrau im Bordell“ dem Titel weiter Gerecht wird, erhält sie eine besondere Aufgabe, deren Accessoires der Frontispiz zeigt. Ihre neue Pflicht gefällt Blanche wohl. Blanches Sittsamkeit ist ein kurioses Missgeschick. Was prüde scheint, ist fast pathologisch. Schon in ihrem meisterhaften „Jenseits“ offenbarten Kerascoet ihr Talent dafür, in ihrer possierlichen, halb kindlichen Linienführung blankes Grauen zu beschwören. Genüssliche Schauder des Grauens und der Erotik fließen in ihrer Milieustudie ineinander. Die sexuelle Union von Lust und Monströsem symbolisiert eine barocke Variation von Hokusais Holzschnitt „Frau und Tintenfisch“. Der Schritt vom Wege führt Blanche in ihre sexuelle Emanzipation. Die Unschuld des „Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“ ist vergänglich, aber verzichtbar in Kerascoets bitterbösem Sittenporträt, in dem unsagbare Brutalität spielerisches Beiwerk ist. Statt von Scham entbrannt ist sie von Zorn entflammt, den jeder zu spüren bekommt, der ihr „Pas touche!“ missachtet: Verehrer, Ärzte oder das freundliche Josephine-Baker-Double unter den Huren. „Auch sie war zu neugierig…“, verrät Josephine Blanche über ein Bordellmädchen, dass der Schlächter holte.
„Die Neugier, trotz all ihrer Reize,
kostet oft reichlich Reue;
Jeden Tag sieht man tausend Beispiele dafür geschehen.
Das ist, wenn es den Frauen auch gefällt, ein ziemlich flüchtiges Vergnügen,
sobald man ihm nachgibt, schwindet es schon,
und immer kostet es zu viel.“
(Blaubart)
Titel: Fräulein Rühr-mich-nicht-an – Die Jungfrau im Freudenhaus/ OT: Miss Pas Touche/ Autor: Hubert/ Zeichner: Kerascoet/ Verlag: Reprodukt/ Erscheinungsjahr: 2010/ Seiten: 48