Wer Sonnenaufgänge liebt, könnte seinen Ausflug ins Wattenmeer in Wilhelmshaven beginnen. Übernachtet er im feinen Columbia-Hotel in einem Zimmer mit Hafenblick, wird er von einer glutroten Sonne geweckt. So romantisch kann Urlaub beginnen.
Dann aber geht es nach Neuharlingersiel, einem 1000-Seelen-Flecken, der 1912 den ersten Ortsprospekt herausbrachte und fünf Strandkörbe zu vermieten hatte. Inzwischen sind es 600, 1.200 Wohnmobil-Stellplätze und ein separater Zeltplatz für 800.000 Übernachtungsgäste im Jahr. Aufwind bekam der Ort, weil zwei Fernsehserien von „Doc Martin“ dort gedreht wurden. Einzigartig in Ostfriesland ist aber auch die Schlickküche, die 400 Jahre alten Schlick aus einem Acker hinterm Deich aufbereitet zur Anwendung bei Hautproblemen und rheumatischen Erkrankungen.
Im malerischen Alten Hafen macht die Skulptur „Alt- und Jungfischer“ auf sich aufmerksam. Der Junge hält nach den Mädels Ausschau, während der Alte sehnsüchtig aufs Meer hinausschaut. Ihm soll man auf den rausgestreckten Hintern klatschen, das bringe Glück. Die eine Pobacke glänzt schon golden. Hier liegen nicht nur die Krabbenkutter, um auf Fang zu gehen, hier wartet einer auf Fahrgäste zur Rundfahrt und Überfahrt nach Spiekeroog, der autofreien Ostfrieseninsel, die aber auch mit der Fähre erreicht werden kann.
Während der Kutterfahrt fischt einige Minuten lang ein Schleppnetz den Meeresboden ab und taucht mit nettem Fang wieder auf. An erster Stelle tummeln sich da Langschwanzkrabben, auch Nordseegarnelen oder Granat genannt. Die werden später gekocht, gepult und verkostet. Unser staatlich geprüfter Wattführer Frank Hensel (Tel. 04463/1716, info@wattwandern.de, www.wattwandern.de) erklärt und zeigt, was wir alles gefangen haben. Eine wahre Fundgrube.
Ein Einsiedlerkrebs eilt mit dem Haus einer Wellhornschnecke davon. Die Schwimmkrabbe erhielt ihren Namen, weil sie „Propeller“ an den Füßen hat. Die Strandkrabbe sei ein Allesfresser und Räuber erster Klasse. Ihr Panzer wachse nicht mit. Sie häute sich, wobei auch die Paarung stattfinde, und bilde einen neuen Panzer. Wir lernen auch, Männlein und Weiblein an ihren Hinterteilen zu unterscheiden. Über die Scholle hören wir, dass sie bis zu einer Größe von 10 Millimeter schwimme wie ein Fisch. Danach ändere sich ihre Kopf- und Augenstruktur, so dass der Kopf nicht symmetrisch ist, sie aber so zum Platt- und Grundfisch wird. Ihre Größe kann die eines Klodeckels erreichen. Die Kliesche ähnelt der Scholle, aber ihre Haut ist nicht glatt, sondern borstig. Der Seestern knacke die Miesmuschel, indem er ihr eine Art Betäubungsgift einspritze, ihr dann seinen Magen überstülpe und sie gleich verdaue. Seeskorpion, Steinpicker, Sandgrundel, Meeräsche, Aal und Dorsch lernen wir zu unterscheiden und eine Seepocke auf dem Krebspanzer zu erkennen.
Doch dann heißt es, sich ruhig zu verhalten. Wir nähern uns einer Sandbank mit Seehunden. Unzählige tummeln sich da, einige schwimmen. Die Austernfischer beäugen uns derweil.
Spiekeroog ist erreicht. Das idyllische Dorf nimmt lediglich ein Zwölftel der langgestreckten Insel ein und hat nur 850 Einwohner. Wir essen Fisch in der „Spiekerooger Leidenschaft“. Perfekt.
Die Eisenbahn von 1890 wurde 1980 abgeschafft. Im ehemaligen Bahnhof macht sich eine Pizzeria breit. Waren die Veranden an den Häusern früher offen, wurden sie später verglast oder überhaupt erst angebaut. Diesen Baustil nennen die Einheimischen Spiekerooger Bäderarchitektur. Das Künstlerhaus bietet ganzjährig Kreativ-Kurse an für Fotografie, Malen, Goldschmieden und vieles mehr.
Schon 1799 war Spiekeroog Seebad. 1826 wurde der Fährmann ermahnt, die Badegäste freundlich und zuvorkommend zu behandeln, obwohl die 1846 erst 162 an der Zahl waren. Aber man räumte für sie die Zimmer und zog so lange auf den Dachboden oder in den Keller.
Im Fenster des Inselmuseums stehen zwei Porzellanhunde. Sie hatten mal eine Bedeutung. Zur prüden Zeit der Königin Victoria von England waren Bordelle verboten. Man behalf sich, indem man solche „Liebeswauwaus“ ins Fenster stellte. Wandten sie dem Außenstehenden den Rücken zu, hatte der keine Chance, guckten sie aber aus dem Fenster raus, durfte er rein.
Viele Männer haben damals ein Hundepärchen der Ehefrau als Souvenir mitgebracht.
Nun erst schreiten die Besucher dem Höhepunkt auf der Insel entgegen. Wegen scharfer Muschelkanten mit Gummistiefeln, festen Turnschuhen oder, wer es wagt, barfuß geht`s über die Salzwiesen ins Watt.
„Hin und her und kreuz und quer/
Patschen wir durchs Wattenmeer,/
Schließt Euch alle, Frau und Mann,/Unserer Polonaise an.“
Eine Postkarte von 1880, die Herren mit hochgekrempelten Hosen, die Damen in hochgeklemmten Röcken, ansonsten total bekleidet, demonstriert das Wattwandern zu jener Zeit. Gepriesen wird da das Waten durch den Meeresschlick gegen Schlaf- und Appetitlosigkeit.
Wir wollen die Wunderwelt Watt näher kennenlernen. Ein aufregendes Abenteuer, das sich bei der gut dreistündigen Wattführung und einer Forke bis zum Sonnenuntergang fortsetzt.
Frank Hensel macht uns bekannt mit dem essbaren Queller, der, solange er saftig grün ist, schön salzig schmeckt und Verwendung im Salat finden könnte. Aber er steht unter Schutz, wie das gesamte Watt mit den vorgelagerten Salzwiesen. Ihr Name, klar, rührt daher, dass sie bei Flut immer von der salzigen Nordsee überschwemmt werden. 40 Halophyten-Arten kann man finden, die salztoleranteren stehen näher am Wasser. Der lila blühende Strandflieder etwa hat Drüsen zum Ausscheiden des Salzes. Die Wermutpflanze, auch Floh- oder Mottenkraut geheißen, riecht man schon von weitem. Salzmiere und Strandaster haben sich genauso mit dem extremen Lebensraum Watt arrangiert wie die verschiedenen Tierarten, von denen 30 bis 40 im Watt leben. Immerhin ist der Wattboden im Winter gefroren und wird im Sommer fangoheiß. Sandklaff-, Herz- und Pfeffermuschel etwa leben einige Zentimeter unter dem Wattboden und sprudeln durch einen Siphon Restwasser nach oben. Für die Vögel ist immer ein reicher Tisch gedeckt. Dank ihrer unterschiedlich langen und gebogenen Schnäbel erreichen sie die entsprechend tief wohnenden Wattbewohner. Auf den rotbraunen Wattwurm, auch Sand- oder Pierwurm genannt, der in einer U-förmigen Röhre lebt und so seltsame Häufchen an der Oberfläche hinterlässt, warten am Flutsaum die Möwen, wenn er denn gerade seinen Kot an die Oberfläche bringt und dazu sein Hinterteil hochreckt. Der Säbelschnäbler grast das Watt nur von oben ab. Die Meeräsche hinterlässt Spuren, wenn sie sich übers Watt schlängelt und die Kieselalgen vertilgt.
Einen netten Versuch darf der Wattführer machen. Er gräbt mit dem Finger aus einer zehn mal zehn Zentimeter kleinen Fläche sage und schreibe 28 Herzmuscheln aus. Hochgerechnet bedeutet das, dass auf einem Quadratmeter 2.800 Herzmuscheln leben. Kaum vorstellbar, und noch weniger vorstellbar, dass sie sich, sobald es ruhig ist, mit ihrem Grabefuß, der einer Zunge gleich aus der leicht geöffneten Muschel tritt, wieder eingraben. Wunderwelt Wattenmeer.
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