Boizenburg, Staaken, Deutschland (Weltexpress). „Wie geschmiert lief das heute mal wieder“, freut sich Kollege Gerhard, und unser Scania brummt zufrieden im Diesel-Sound dazu.
01.20 Uhr: Gerade haben wir die letzte Kontrollstelle hinter uns gelassen, vom mecklenburgischen DDR-Grenzübergang Horst, dessen grell beleuchtete Abfertigungsanlage langsam im Rückspiegel zu einem hellen Punkt in der stockfinsteren Nacht verschmilzt. Vor uns 230 Kilometer Transit-nach West-Berlin: auf der F 5 nach Staaken.
Der fünfachsige 42-Tonnen-Sattelzug ist jetzt so richtig auf Touren, die Tachonadel pendelt zwischen 70 und erlaubten 80 km/h.
Plötzlich erfassen die Scheinwerfer ein Tempo-Schild: 60, das wir dort sonst noch nie gesehen haben. Nun, das soll uns nicht weiter stören. Aber vielleicht steckt mehr dahinter? Und richtig – ein paar Sekunden später das zweite: 40. Runter vom Gas, Motorbremse angetippt! Der mit vollbeladene Auflieger schiebt nach, ist kein Leichtgewicht. „Verdammt, dreißig!“, zischt Gerhard. Im gleichen Momentflammt ein greller Lichtblitz auf. „Sch…!“ Stand da nicht genau hinter dem Schild ein Volkspolizei-Kleinbus der Marke „Barkas“ und vor dem ein „Lada“? Im kleinen Gang kriecht der schwere Zug dahin, bis der „Zitterstab“ – schwarz-weiß gestreift und nachts beleuchtet – das ist die gefürchtete VoPo-Kelle, vor uns kreist, uns auf Tempo Null an den Fahrbahnrand zwingt. Tür auf: „Was ist denn los, stimmt was nicht?“ Ein knapper Gruß und dann: „Ihre Personal- und Fahrzeugpapiere!“ gibt der Weißbemützte ohne „bitte!“ von unten knapp zurück und verschwindet damit im Kleinbus. Wir stehen da und sehen uns an – verdattert. Jetzt erst bemerken wir zwei weitere Züge, die vor uns auf dem Seitenstreifen halten. Aha, eine Lkw-Falle also, denn nachts fahren hier kaum Pkw, so dass die Vopos sich an den Brummis schadlos halten können. Immerhin rollten damals täglich über 800 Züge von und nach West-Berlin, das lohnte sich schon.
Keine Leisetreter
Die „Grünen“ lassen sich Zeit. Unsere Tachoscheibe haben wir nicht herausgerückt, denn so etwas ist im DDR-Verkehrsgesetz noch nicht vorgeschrieben. Außerdem lässt sich der Tacho abschließen, und den Schlüssel zur Wochenscheibe hat ja bekanntlich nur der Chef. „Unsere Messgeräte haben Sie mit 74 km/h gestoppt, damit haben Sie die zulässige Höchstgeschwindigkeit um genau 14 km überschritten. Sie werden dafür mit einem Bußgeld in Höhe von 50 DM belegt.“ Korrekt, aber eiskalt. Handeln ist da nicht drin.
Wir protestieren, denn wir sind keine Leisetreter: „Ist doch geradezu unsinnig, diese Geschwindigkeitsbegrenzung auf freier Strecke! Bei uns ist man auch korrekt, aber solche Willkürmaßnahmen ohne triftigen Grund gibt’s nun doch nicht, alles was Recht ist!“ Der VoPo reckt sich: „Das mag bei Ihnen in der BRD so sein, in der Deutschen Demokratischen Republik dagegen herrscht Ordnung!“ Wir weigern uns, diese Raubrittermethoden auch noch durch unsere Spesen zu unterstützen. Der Uniformierte muss nun zähneknirschend mit den Papieren eine Zahlkarte heraufreichen. Man kann ja später zahlen; überweist man aber in der gesetzlichen Frist nichts, riskiert man unter Umständen ein Transitverbot. Für einen Fernfahrer im Berlin-Verkehr existenzbedrohend. Man kann natürlich auch Beschwerde einlegen beim zuständigen Volkspolizei-Kreisamt (die Anschrift steht auf der Zahlkarte). Genau das haben wir uns auch vorgenommen.
Den Stapel mit den Personal-und Fahrzeugpapieren lege ich in die Ablage .
Blinker links, und ab geht’s wieder grollend und röhrend auf die gewölbte Kopfsteinpflaster-Piste. Unser Gesprächsthema für diese Nacht ist klar.
„So schnell konnte ich doch gar nicht abbremsen, bei den kurzen Abständen zwischen den Schildern, unmöglich!“ überlegt Gerhard, und ob er vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. „Auf jeden Fall haben wir uns von denen nicht kleinkriegen lassen, und geärgert haben die sich auch über unsere Aufmüpfigkeit“, versuche ich Gerhard zu trösten. „Und wer hätte uns denn vor dieser völlig neuen Schikane warnen können?“ Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich unter Kollegen tagsüber mit einer gegen die Windschutzscheibe gedrückten Tachoscheibe warnt, denn Aufblenden mit der Lichthupe kann kosten. Vopos mit scharfen Ferngläsern bilden manchmal die „Nachhut“ hinter einer Radarfalle – eine doppelte (Devisen-) Falle also. Stunden später rumpeln in den brandenburgischen Kontrollpunkt Staaken.
Bei Rot: Grenzalarm
Der Uniformierte blättert routinemäßig und vielleicht schon etwas müde in unseren Dokumenten, runzelt plötzlich die Stirn: „Wo ist denn Ihr Visum?“ fragt er mich gereizt. „Bei den Papieren natürlich, wo sonst!“ maule ich ungeduldig. Das Papier bleibt verschwunden. Und schon springt die Ampel vor uns auf Rot, alle Schlagbäume senken sich, eine Glocke schrillt: Grenzalarm, alles ist dicht. Wieder sitzen wir in der Falle, denn ich könnte ja immerhin ein „Republikflüchtiger“ sein, genau das wird’s sein. Hinter und vor uns stauen sich Lkw. Nichts geht mehr.
Nach einer Stunde entnervender Warterei klettere ich herunter vom „Bock“ und klopfe an die Tür des Kontrollhäuschens, die sich nur einen Spaltbreit öffnet. Aus dem Dunkel des Innern werde ich barsch angefahren, gefälligst im Lkw zu warten, bis ich gerufen werde. Wir brauchen unseren Schlaf, denn wir sind am nächsten Tag in Berlin unterwegs zum Ab- und Aufladen, lauter schwere Paletten, und abends müssen wir wieder auf Gegentour nach Schleswig-Holstein.
Aus meiner Reisetasche krame ich Führerschein und eine Zeitschrift hervor, in der ein Artikel von mir mit Bild abgedruckt ist. Damit könnte ich den Herren Grenzern doch beweisen, wer ich bin. Ich wage einen erneuten Vorstoß. Zwei Grenzoffiziere kommen mir entgegen, wollen mich anscheinend verhören.
Müde Werktätige
Ich halte Ihnen meine Identitätsnachweise unter die Nase mit der Bemerkung, dass ich das Heft mit meinem Artikel ja kaum während der Fahrt durch die DDR habe drucken können. Ich gebe weitere Denkanstöße: ob sie denn nicht mal in Horst nachgefragt hätten? Vielleicht habe ich dort gar kein Visum bekommen und dessen Fehlen im Wust der Unterlagen nicht bemerkt, oder der Kollege von der VP hat‘s nach der Kontrolle versehentlich nicht zurückgegeben. „Wir haben noch keine telefonische Verbindung dorthin“, erwidert der eine. Drum folgt erstmal ein Test der Beobachtungsgabe (unser Strafmandat müsste eigentlich als Beweis ausreichen):
„Beschreiben Sie Ihren Kollegen!“ Mein Hinweis auf uns müde Werktätige und die überzogene Arbeitszeit fruchtet nichts.
Kalter Morgennebel kriecht unter die Haut. Warten, warten, warten, lautet die Devise, was sonst, bis die lange Leitung nach Horst doch noch zustande kommt.
Die Zwei tauchen auf, mit meinen Papieren, geben sich zerknirscht: Da sei ein Fehler unterlaufen, man bitte um Entschuldigung. Ich dagegen verweise auf die DDR-staatliche Ordnung, die uns doch gerade von der Schweriner VP als so vorbildlich hingestellt worden ist und anders als bei uns herrsche. Da kommt das Geständnis: „Machen Sie denn keine Fehler?“ „Doch“, kontere ich, „aber ohne Schikane.“
Den West-Berliner Zoll wundert‘s und er nimmt den Vorfall zu Protokoll. Mit vier Stunden Verspätung finden wir endlich auf dem Speditionshof unseren wohlverdienten Schlaf.
Anmerkung:
Lesen Sie auch den Beitrag Transit-Geschichte(n) oder Die F 5 – Vielfältige Fernfahrer-Erinnerung an eine ungewöhnliche Straße von Dr. Peer Schmidt-Walther.