Dies war der elfte Teil der Veranstaltungsreihe „Tradition zum Anfassen“, die von der Fan- und Förderabteilung und dem Museum gemeinsam durchgeführt wird, und der Abend wurde zu einer Sternstunde des Eintrachtlebens, weil, außer einem guten Spiel zu folgen, nichts so schön ist, wie wenn nach Jahren des Abstands die Insider einmal so richtig aus dem Nähkästchen plaudern und erzählen, wie es wirklich war, mit den Eintrachtoberen, die damals Rudolf Gramlich als Präsident und Paul Oßwald als Trainer hießen. Gramlich war Fußballspieler und sogar Kapitän der deutschen Nationalmannschaft 1936 in Berlin gewesen, allerdings auch stark mit der NSDAP verbandelt. Wir nehmen an, daß dies und die Vorbehalte der Amerikaner gegen ihn, auch einmal Thema eines Abends ist oder schon war.
Heute allerdings geht es um die angenehmsten Erinnerungen, die, wenn sie nicht selbst erlebt sind, auf jeden Fall tief emotional im kollektiven Gedächtnis der Frankfurter bewahrt sind. Erwin Stein, der zweifache Endspieltorschütze, so schien uns, schmiß zusammen mit Friedel Lutz den Laden und erzählte so witzig immer neue Geschichten, daß man ihm glatt einen Fußballerzählorden hätte verleihen wollen und die Zuhörer aus dem Lachen nicht mehr herauskamen. Zuerst allerdings wurden mit Filmen und Worten die Fußballgeschichte des ereignisreichen Jahres nach dem Gewinn der deutschen Fußballmeisterschaft 1959 gegen Offenbach zusammengetragen, wobei Stefan Minden, Vorsitzender der Fan- und Förderabteilung, aus den wortstarken Fußballartikeln die Blüten heraussuchte. Die alte Rivalität mit Offenbach (Frankfurt helau, Offenbach pfui) brach auf einmal historisch aus und der auf die östliche Konkurrenz gemünzte Spruch: „In Europa kennt Euch keine Sau!“, wurde verschärft in: „Hinter Hanau kennt Euch keine Sau!“.
Begrüßt hatte Matthias Thoma, der das Eintrachtmuseum leitet, jeden einzelnen Spieler mit den wichtigsten Daten seines Fußballebens – keiner hat so viele Eintrachtspiele absolviert wie Adolf Bechtold, rund vierhundert -, aber auch die im Publikum herausgehoben, die wie Karl Kraus seit 1933 Mitglied der Frankfurt Eintracht sind. Fassen wir die Fußballereignisse, die vielfältig gemeinsam aus alten Aufnahmen und Artikeln zitiert wurden, zusammen: Der erste Gegner, der finnische Meister, hatte gleich aufgegeben. Kuopio Palloseura hatte bei der Europäischen Fußball-Union beantragt, beide Spiele in Deutschland austragen zu dürfen. Denn die Elf aus Kuopio war einerseits krasser Außenseiter und erhoffte sich andererseits hierzulande mehr Zuschauer als im eigenen Stadion mit 5 000 Plätzen. Aber das wurde seitens der Fußball-Union abgelehnt, weshalb Eintracht Frankfurt kampflos eine Runde weiter kam. So steht es geschrieben. Aber im Bewußtsein der Glasgow-Elf klang das mündlich ganz anders: Da lag in Finnland Schnee, weshalb man nicht spielen konnte und das Angebot der Eintracht, hier zu spielen, hätten die Finnen wegen Geldmangel abgelehnt. Ein schönes Beispiel für historische Wahrheit und die viel schönere abgefälschte Erinnerung.
Die nächsten Stationen waren Bern und Wien, die die Eintracht als Gesamtsieger bewältigte und wozu die anwesenden Spielerfrauen Anekdoten beitragen konnten, wie auch die, daß der berüchtigte Schlag mit dem Regenschirm in Wien nicht stattgefunden habe. Wenigstens nicht von besagter Dame. Gegen Ende der Veranstaltung, die doppelt so lange dauerte, wie geplant, kamen die Spielerfrauen endlich ins Reden, was wir unter uns lassen wollen. Denn im Ablauf des Europapokals kam nun mit Glasgow das Halbfinale dran und die eigentliche Legende beginnt.
Das Hinspiel wurde am 13. April 1960 im Frankfurter Waldstadion mit 6:1 gewonnen! Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen, haben doch Feierabendspieler gegen eine Profimannschaft von Berufsspielern haushoch gewonnen. Dieter Stinka erzählte, wie er noch tags bis mittags bei der Post gearbeitet hatte und dann spielte. 120 Deutsche Mark war damals das Zubrot vom Verein aus, zu dem Zulagen und Gewinnprämien kamen. Eine tolle Geschichte erzählten die wackeren Mannen von ihrer „Erpressung“ gegenüber den Oberen. Ein für die Eintracht gut finanziertes Freundschaftsspiel in Belgien war geplant, zu dem just bekannt wurde, daß die ausgehandelte Europapokalprämie nicht auf dem Gehaltszettel stand und auch nicht ausgezahlt werden sollte. Also sprachen sich alle Spieler solidarisch dafür aus, nicht zu spielen, wenn nicht gezahlt würde. Die abendliche Einberufung in die Villa des Präsidenten folgte auf dem Fuß. Wer seine Verweigerung hier mündlich bestätige, würde beim DFB gemeldet und könne in Zukunft auf Fußballspielen verzichten.
Beim neuesten Spieler, dem jungen Erwin Stein, begann die Fragerunde. Unverblümt erzählte er, wie blümerant ihm zu Mute war, daß er den strengen Blicken der Oberen kaum standhalten konnte, ihn dann aber der bewähre Kempe Richard Kress so eindeutig fixiert habe, daß ihm das standhafte „Nein, ich spiele nicht“ über die Lippen kam und alle anderen Spieler folgten. Sieg also auf der ganzen Linie gegen die Bosse, denn die mußten nun zahlen! Schwer gefallen kann es ihnen bei der Freundschaftsspielprämie von 35 000 Dollar nicht sein, denn die 15 Spieler – so klein war dereinst der Kader, wo Auswechseln nicht vorkam – sollten je 3 000 DM Europapokalprämie erhalten, was also immer noch ein gutes Geschäft für den Verein blieb.
Sieg aber auch auf dem Fußballplatz. Denn dem phantastischen Spiel gegen die Glasgow Rangers in Frankfurt folgte das Rückspiel im Ibrox-Park mit einer siegreichen Eintracht und 6:3 Toren. Dabei hatte die Eintracht einen so tiefen Eindruck hinterlassen, daß ihre Spieler vom Publikum bei der Ehrenrunde frenetisch gefeiert wurden und die Rangersspieler beim Gang in die Kabinen ein Spalier bildeten. Kein Wunder, daß da heute mancher feuchte Augen bekommt und dieses Spiel für manche Zuschauer das schönste ihres Lebens blieb.
Aber es kam noch doller. Denn jetzt war Eintracht Frankfurt im Endspiel! Es war das fünfte Endspiel seit Einführung des Europapokals und Gewinner war schon vier Jahre lang immer Real Madrid gewesen, die auch diesmal im Endspiel standen. Ausgerechnet in Glasgow fand nun auch das Endspiel statt. Die Eintracht war zum ersten Mal deutscher Meister geworden – bis heute auch nie wieder – und sie war die erste deutsche Mannschaft in einem Endspiel um den Europapokal. Das war am 18. Mai 1960 im Hampden-Park, wo von 130 000 Zuschauer mindestens 125 00 frenetisch klatschten, als die Eintrachtmannschaft auftrat. Denn die Schotten waren durch die gewonnenen Spiele gegen Glasgow zuvor völlig zur Eintracht übergelaufen, die Fans aus Frankfurt sowieso und der Rest war aus Spanien angereist. Ist ja auch langweilig, wenn immer Real Madrid gewinnt. So war es zwar zum Schluß auch hier, mit 3:7 unterlag die Eintracht, aber welch ein Kampf!
Das sagen auch an diesem Abend alle die, die dabei waren und sich nicht einholen konnten vor Lob, wie die Frankfurter mit spielerischen Mitteln, über die sie eigentlich gar nicht verfügten, das Spiel ihres Lebens spielten und trotz der Tordifferenz ein ebenbürtiger Partner blieben. Die Spielberichte und die Tore sind legendär und wie sehr diese Mannschaft aus Frankfurt den bisherigen und erneuten Pokalmeister beeindruckt hatte, ersieht man aus den Freundschaftskontakten der Königlichen aus Madrid zur Eintracht bis heute. Denn neulich erst waren die von Real im Frankfurter Stadion und zum 50 Jahresereignis fährt die Restmannschaft der Eintracht von 1960 nach Madrid.
Dennoch sei auch der Wahrheit ans Licht verholfen, die wieder einmal Erwin Stein berichtete. Denn nach dem mit 3:7 verlorenen Endspiel mußten nun ihrerseits die Eintrachtler auf Geheiß ihres Trainers das Fairneßgebot der Schotten wiederholen und für die Madrider das Ehrenspalier bilden, was Erwin Stein kommentierte mit: „Am liebsten hätte ich ihnen in die Gurgel gebissen“, aber brav mittat. Mit gleicher Intensität wurde auch derer gedacht, die als Konterfei oben am Eintrachthimmel über dem Podium hängen, und nun von dort aus die Eintrachtgeschicke betrachten. Besagter Paul Oßwald als Trainer und die wichtigsten Spieler, der Rechtsaußen Richard Kress und Alfred Pfaff als Kapitän Don Alfredo, bei denen damals die Fäden zusammenliefen. Daß dann noch Thomas Zöller von der Dudelsack-Akademie mit seinem Dudelsack und im Kilt einzog und das Eintrachtlied „Im Herzen von Europa“ intonierte, brachte vollends schottische Verhältnisse und somit lautes Mitsingen. Dieser Abend bot historische Genauigkeit genauso wie Histörchen und bot somit eine richtige Mischung, was man aus der Vergangenheit tradieren kann, um heute ein Vereinsgefühl zu begründen und zu stabilisieren.