Wir kommen auf Hauri und die Originale zurück, wollen aber erst einmal das Seitenkabinett vorstellen, in dem „Bilder einer Zwangssterilisierung“ von Wilhelm Werner (1898 – 1940) als horror vacui inszeniert, also dicht eines neben dem anderen gesetzt, von der Angst, dem Grauen und der namenlosen Verzweiflung sprechen, die dieser Mann zwischen 1934 und 1938 nach seiner Zwangssterilisierung im Dritten Reich erlebte und von denen die mit Bleistift gefertigten Zeichnungen sicher nur ein schwacher Abglanz sind, für uns allerdings stark genug, daß man manchmal kaum hinsehen kann, weil einem diese Unmenschlichkeit den Atem stocken läßt. „Muß ich mich dem aussetzen?“, fragte uns eine Besucherin. Sehr schwer zu beantworten, wenn man die Bilder an den Wänden als Realität sieht, die sie ja waren. Unbedingt anzuschauen aber, wenn jemand erfahren will, wie ein Mensch künstlerisch auf das ihm angetane Unrecht reagiert und so ein Panorama einer Zeit festmalt, vor der einem graut und erst recht, wenn man weiß, daß deren Wurzeln nicht vollends abgestorben oder verfault sind. Denn wie halten Sie es mit der Fortpflanzung von Geisteskranken, die man heute anders benennt, die aber, wie dazumal in von der Mitwelt abgeschlossenen Anstalten leben?
Wilhelm Werner lebte seit 1919 in der Anstalt Werneck und das Museum sagt ausdrücklich: „Der Überlieferung nach zeichnete er die Blätter zwischen 1934 und 1938 nach seiner Zwangssterilisierung. Die Erfahrung des entwürdigenden Eingriffs setzte er in beeindruckend phantasievolle und eigenständige Bilder um. Zwei Jahre später wurde Werner Opfer der NS-’Euthanasie`.“ Stellen Sie sich also 44 gleich große Bleistiftzeichnungen vor, alle in den Maßen 20 x 15 Zentimetern. Man würde an Kinderzeichnungen denken, in der vereinfachenden Form von Menschen und Dingen, wären da nicht die Sujets vom ans Bett gefesselten Mann, das Krankenhauspersonal im militärischen Gehabe, die Instrumente als Schreckensfoltergeräte und dann wiederum bei oder gerade durch die Genauigkeit der Zeichnung eine Unwirklichkeit über der Szenerie, die von ausgestopften Puppen spricht, statt von Menschen.
Hier passiert alles gleichzeitig, wenn der „Theaterrekisör“ Hand anlegt. Man selbst ist Hin- und Hergeworfen zwischen Empathie und tiefem Mitgefühl und schämt sich gleichzeitig dezent, daß man diese Zeichnungen tatsächlich ’kunsthistorisch` anschaut und aus ihnen die Sachinformationen genauso zu entnehmen versucht wie das menschliche Leid vieler, denen Wilhelm Werner seine Feder leiht. Denn nach und nach kommen wir darauf, daß diese 44 Zeichnungen nicht nur sein Schicksal abbilden, sondern daß er die Praxis der Sterilisation an vielen Leidtragenden abbildet. Man liest „Entfernung der Keimdrüsen“, Entnahme der Sexualorgane“ und vom „Unfruchtbarmachen“. Das klingt so sachlich, was ungeheuerlich bleibt, wäre aber im medizinischen Sprachgebrauch eine Kastration, während bei der Sterilisation ’nur` die Samenleiter unterbrochen würden.
Zurück zu Valentin Hauri, der 1998 einst in Paris in einem Werkkatalog Abbildungen der Prinzhornsammlung sah und seither immer wieder angeregt von dem gegenständlichen, aber durchaus absurden Bildgehalt Pendants malt, die inhaltlich gemeint sind, aber ungegenständlich auf große Leinwände gebracht werden. Soll man es Reflex, Verdichtung, Antwort, Erinnerung, Assoziation oder Nachahmung nennen, zu was Valentin Hauri die von ihm ausgewählten Vorlagen von L. Berthold, Johann Melitta Arnold, Else Blankenhorn, Franz Bühler, Katharina Detzel, geborene Beling, Josef Forster, Johannes Friedrich, Josef Heinrich Grebing, Oskar Herzberg und Elsbeth Hoffmann benutzt. Eines ist offensichtlich und gab uns zu denken und noch mehr zu fühlen: Die mit Stiften vollgezeichneten und vollgekritzelten Vorlagen, die Bilder der geisteskranken inhaftierten Kranken, sind winzig klein im Verhältnis zu den großen, so karg wie opulenten Leinwänden, auf denen meist wenige Ölspuren auf angesagtem Weiß graphische Nähe zum Vorbild suggeriert.
Elsbeth Hoffman hängt auf 22,7 x 15,7 Zentimeter bescheiden an der Seite, während das auf ihrem Bild fußende große Ölgemälde 130 x 117 Zentimeter mißt. Das fällt auf. Und erst recht, wenn dann im schönen großen viereckigen Raum sich das wiederholt: Jakob Mohrs „Bleiweiße“ um 1910, mit Bleistift und Feder auf Aktenpapier in 33 x 21,Zentimetern, demgegenüber die ebenfalls 130 x 117 Zentimeter große Leinwand in Weiß mit drei roten Quadraten und blauer Begrenzung sich wichtig tut. Auch bei der „Erklärung über den Erduntergang“ von Otto Herzberg in den Maßen 21 x 33 Zentimetern interessiert uns viel mehr dessen gegenständliche Vorlage als die Korrespondenz von Hauri auf 100 x 90 Zentimetern, der die Achse dreht und halt Farben auf Weiß bringt. So geht es uns unentwegt, daß unser Blick lange auf den winzigen Vorlagen ruht und schnell über die großen Leinwände schweift, obwohl das Auge eher den überdimensionierten Leinwänden folgen will, statt den kleinen, das Hirn beschäftigenden Papierfetzen.
Daß grundsätzlich diese sehr unkonventionellen Vorlagen zum malerischen Weiterspinnen reizen, ist nicht neu, denn seit Beginn des 19. Jahrhunderts war „zurück zu den Wurzeln“ in der Bewunderung des Primitiven angesagt. Picasso und die afrikanische Skulptur sind dafür nur ein häufig verwendetes Beispiel. Genauso kann man Ernst Ludwig Kirchner nennen, der vor allem in der Skulptur das Rohe und Unfertige übernahm, und sich immer wieder auf die Werke von Geisteskranken bezog, wie auch Alfred Kubin, Oskar Schlemmer und Richard Lindner. Max Ernst bezog sich nicht nur darauf, sondern ahmte sein Vorbild August Natterer im Wunder-Hirthen II fast genau ab, womit er großen Erfolg erzielte, während für die Nichtkenner der Prinzhornsammlung – immer noch zu viele – der originale Künstler unbekannt bleibt. Auch nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich das Interesse fort, wobei keine Trennschärfe zwischen naiver Kunst, Volkskunst, Primitivismus und Bilder von Geisteskranken herrscht, sondern diese als ’autodidaktische` Werke eingruppiert werden. Jean Dubuffet u.a. formulierten dann die Art brut als rohe, ungeformte Kunst, die diese ungeschulte natürliche Ausdrucksform mit künstlerischen Mitteln nachahmen wollte.
Was bewegte also Hauri, sich seit über ein Jahrzehnt auf diese Kunst der Geisteskranken zu beziehen? Das Museum führt an: „Er selbst hebt hervor, es sei das ‚Ungelernte`, das anderen als den gesetzten akademischen Linien folgt, das ’Rohe`, ’Ungeformte`, was ihn anziehe. Das klingt zunächst wie der Enthusiasmus der Expressionisten für das Unmittelbare, Authentische, Echte` an der Anstaltskunst.“ Doch das sei nicht der Beweggrund des Malers, sondern der Gegensatz zur „raffinierten, schönen Geste“. „In den Werken der Sammlung Prinzhorn findet er den ’Rückzug, die Askese, das Verletzliche, Fehlerhafte.“, was er versucht, in seine Malerei aufzunehmen.
Uns ist das Anlaß, wieder einmal mit Interesse und Erschütterung die Originale in der Heidelberger Prinzhornsammlung zu studieren. Das kann man gar nicht oft genug tun.
Ausstellung: bis zum 6. Juni 2010
Internet: www.prinzhorn.uni-hd.de