Aber der Maler hat wohl schon an uns heute gedacht und sicherheitshalber den beiden Heiligen je ein Täfelchen beigegeben. So streckt uns der in voluminöses Dunkelrot gekleidete Rochus sein Namen auf einem Zettel entgegen, und „St. Sebastian“ nennt das Schildchen, das über dem Zweiten mit einem Pfeil am Baumstamm befestigt ist. Ja, sie hat schwer gesündigt, die Menschheit, und jetzt muß sie dafür schwer büßen und je stärker die beiden Heiligen die ihnen gegenüberstehende Jungfrau Maria dazu bewegen können, bei Gottvater selbst Fürbitte einzulegen, desto eher werden die Menschen entsühnt und von der Pest befreit. Genauso dachte der Gläubige und genauso malte dies der Maler, der in diesen zwei Flügeln eines Pestaltars die ganze Welt einfängt, unten die Erde, oben der Himmel, mit dem zürnenden Gottvater, das Schwert in der Hand und dem Sohn als Schmerzensmann kniend, den Heiligen Geist als Taube über ihm umringt von der Heerschar der Engel.
Herrliche Landschaften, zartblaue Berge, wie sie die Donauschule vormachte, und ein prächtiges Wasserschloß künden von der Schönheit der Welt, die gereinigt gehört. So können wir mit dem Finger imaginär im Bild die Geschichte weiterverfolgen, wie in Bedeutungsperspektive die Menschlein so klein geraten und selbst Kaiser Maximilian, Papst Gregor und der Heilige Hieronymus auf Menschenmaß schrumpfen. Das Bild zeigt so viele Details – himmlisch sozusagen der Engel dort oben, der wild seine Pfeile schießt, die derart in Bäume und sogar Mauern fahren, daß man denkt, die Posaunen von Jericho zu hören”¦aber das ist eine andere Geschichte und was wir hier andeuten wollen, ist, daß in diesen Bildern Geschichten erzählt, Bezugssysteme errichtet werden, daß wir für die nächsten Stunden dem lauschen könnten, was uns entgegenstrahlt. Wenn man es hört und wenn man es versteht. Und damit dies möglichst viele Menschen können, haben die Nürnberger ihre Schausammlung vom Kopf auf die Füße gestellt.
Der Kopf, das sind die weltbekannten Werke von Albrecht Dürer, die Cranachs, Hans Baldung Grien, die Schar der deutschen Meister der Zeit, später das Selbstbildnis von Rembrandt und so viele herrliche Bilder. Sie aber werden nicht isoliert aufgehängt, sondern werden da, wo man noch Materialien gefunden hat, in ihr damaliges Umfeld eingebettet. Man sieht die Spitzen hinter Glas, die die feine Dame auf dem Bild trägt, sieht den Umhang und die Jakobsmuschel des Pilgers nach Santiago, die sein Abbild zieren, man sieht die Entwürfe von Albrecht Dürer für die Glasfenster – er war ja als Allroundgestalter des Kaisers für alles, auch seinen Prunkempfang zuständig – und die Glasfenster selbst, man sieht die Pokale, die auf den Bildern prangen, den Nautiluspokal, wie man dies von der Natur so eigen und schön geformte Perlmuttstück aus dem Meer nennt, das in besonderer Weise Sinnbild wurde für die Verbindung von Naturalia und Artificialia, indem die natürliche Nautilusschale auf vom Menschen geformte zierliche Goldfüße gesetzt wurde.
Wir sind mittendrinnen in der Zeit, als die Natur gestaltet und in den Kunst- und Wunderkammern die Kuriositäten gesammelt und durch menschliche Einwirkungen zum Kunstwerk erklärt wurden. Das alles ist im Deutschen Nationalmuseum in der Neuaufstellung zu sehen und wir erleben damit den Versuch, aufzuheben, was die plumpe Teilung im 19. Jahrhundert verordnete, indem sie die „hohe Kunst“ , sprich Bilder und Skulpturen, in Kunstmuseen absperrte und alles andere in Museen für Angewandte Kunst steckte: kunstvolle Lederwaren, Medaillen, die Möbel und ihre Moden, Schmuck, Kleider und Hüte, Musikinstrumente, Trachten, die kirchliche Kunst und die speziellen Textilien sowie die gedruckten Texte und Handschriften. In Nürnberg kann man sogar zwei historische Zimmer aus Nürnberger Bürgerhäusern der Renaissance betrachten.
Was dieses Museum damit dem Besucher von heute zurückgibt, ist der Versuch, die Welt von damals mehrdimensional verstehen zu lernen. Wenn wir von „Versuch“ sprechen, soll das nur heißen, daß das erst der Anfang ist. Denn lebendig und mit allen Sinnen erfahrbar der Kunst ihr damaliges Leben zurückzugeben, heißt auch, sich noch stärker auf die Geschichte, auf die Lebensweisen der Zeit, auf die Musik, ihre Literatur, ihr Fest- und Alltagswesen zu beziehen, was einen ungeheuren multimedialen Aufwand braucht, wenn es denn überhaupt geht. Darin liegen also auch die Grenzen einer Schausammlung, die von ihrer Bildersammlung her eine der bedeutsamsten dieser Zeit ist, und die nun durch die Neupräsentation einen kulturgeschichtlichen Hintergrund erhält, der das Nürnberger Nationalmuseum einzigartig in der Bundesrepublik dastehen läßt.
Wie gut, daß die Museumsplanung von vorneherein ein neuartiges multimediales Führungssystem erarbeitet hat, das den Besucher auf einem Rundgang begleitet. Wir selbst schwören auf personale Führungen, die ebenfalls reich angeboten werden, und die einen Dialog der Besucher mit den Ausstellungsstücken möglich machen, weil gelenkte Augen mehr sehen und das Antwortenerhalten viele erst zum Fragen bringt. Dann erkennt man schnell, daß man mit der neukonzipierten Ausstellung mehr als nur Kunstwerke zu sehen bekommt – die für sich genommen schon jeden Besuch lohnen! Man erhält nämlich auch einen Einblick, wie sich in Renaissance, Barock und Aufklärung jeweils der Adel, die Geistlichkeit, die Intelligenz und das Bürgertum in ihrer Repräsentation im Kern selbst darstellten.
Daß das größte kulturhistorische Museum im deutschen Sprachraum mit der Neuaufstellung seiner Kernsammlung diesem Gebäudetrakt auch die neueste wissenschaftlich-technologische Klima- , Licht- und Sicherheitstechnik brachte, was sechs Jahre währte und etwa 5, 5 Millionen kostete, das kann man auf der Gesamtfläche von 1800 Quadratmetern in 33 Räumen nun besichtigen. Die etwa 1000 Kunstwerke, zu dem wir oben zu einem einzigen etwas sagten, wurden restauriert und wissenschaftlich untersucht, was man im Katalog nachlesen kann und auch sollte. Diese Neuaufstellung folgt dem „Mittelalter“, wo seit 2006 Kunst und Kultur von der Spätantike bis zum 15. Jahrhundert vor- und ausgestellt wird. Ein Katalog für „Kleiderwechsel“, Frauen- Männer- und Kinderkleidung des 18. bis 20. Jahrhunderts liegt ebenfalls vor.
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Info für Besucher: Am Sonntag, dem 21. März, können die Besucher erstmalig „Die Galerie im neuen Glanz“ entdecken, es warten ein spannender Reigen von Führungen und eine Kinder-Eltern-Aktion.
Katalog: Renaissance, Barock, Aufklärung. Kunst und Kultur vom 16. bis 18. Jahrhundert, hrsg. von Daniel Hess und Dagmar Hirschfelder, Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2010
Katalog: Mittelalter. Kunst und Kultur von der Spätantike bis zum 15. Jahrhundert, Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2007
Katalog: Kleiderwechsel, Frauen-, Männer- und Kinderkleidung des 18. Bis zum 20. Jahrhunderts, hrsg. von Jutta Zander-Seidel, Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2002
Internet: www.gnm.de