Zuallererst möchte ich Ihnen für Ihre Predigt insgesamt von Herzen danken: Sie sind ganz nah an der Lebenswirklichkeit, an den Menschen mit ihren Widersprüchen; Sie weichen dem Erschreckenden nicht aus, nennen es beim Namen und helfen zugleich, sich nicht im Erschrecken zu verlieren, machen Mut und Hoffnung. Mir ist als jungem Mann vor Jahrzehnten der explizite Glaube "abhandengekommen". Der vormals sehr gläubige, suchende junge Mann hatte die unmittelbaren Vertreter seiner katholischen Kirche als priesterliche Sprechautomaten erlebt, ohne Ohr, geschweige Antworten auf das, was mich umtrieb – z.B. den Vietnamkrieg damals. Sie haben mich mit Ihrer Predigt erreicht und sehr bewegt. Das müsste auch für viele andere gelten, wenn Sie Ihre ganze Predigt zur Kenntnis nehmen würden.
Dass Sie in Ihrer Predigt auch das Erschrecken um Afghanistan zur Sprache gebracht haben, war ausgesprochen notwendig. Offene Worte sind hier Demokratenpflicht: angesichts der äußerst beunruhigenden Entwicklung der letzten Jahre, des beschönigenden wie halbherzigen Umgangs verantwortlicher Politik damit, der existenziellen Not vieler eingesetzter Soldaten und ihrer Angehörigen, angesichts der Gespaltenheit unserer Gesellschaft. Jahrelang wurde – zu Recht – über das "freundliche Desinteresse" der bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber den Auslandseinsätzen der Bundeswehr geklagt. Viel besser ist also, es wird Klartext gesprochen und die Auseinandersetzung geführt, als dass übliche Konsensblasen produziert werden. Danke also, dass Sie Anstoß erregt haben.
Viele Reaktionen auf die Afghanistan-Passage Ihrer Predigt waren überzogen. Für manche Ihrer Kritiker scheint es auch eine Gelegenheit zu sein, abzulenken von eigenem politischen Versagen und eigener Ratlosigkeit, abzulenken von der hochsteigenden Angst vor einem möglichen großen Desaster. Es ist falsch und dumm, Sie in die Ecke der Linken zu stellen; denn diese hat sich nach meiner Erfahrung nie für praktische Friedensförderung in Afghanistan engagiert; sie vertritt mit ihrer Forderung nach Sofortabzug eine Position von "Nach uns die Sintflut".
Ihren Grundansatz "Vorrang für zivil" teile ich nicht nur. Ich habe mich auch immer um seine politisch-praktische Umsetzung bemüht. Zugleich will ich nicht verhehlen, dass Ihre Worte zu Afghanistan teilweise meinen Widerspruch hervorrufen. Bei aller Schwierigkeit, ein so komplexes und strittiges Thema mit ca. zehn Sätzen anzusprechen: Mir ist es zu pauschal, eine dichotomische Vereinfachung einer höchst widerspüchlichen Konfliktwirklichkeit:
"All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden."
Im Kontext der andauernden Diskussion um den Luftangriff von Kunduz am 4. September klingt das so, als sei mit diesem kriegerischen Akt eine bisher verhüllte und beschönigte Realität des Afghanistaneinsatzes zutage getreten. In Wirklichkeit wurden in Afghanistan über Jahre verschiedene Strategien – politisch ungeklärt – nebeneinander praktiziert: die militante Strategie des sprichwörtlichen "war on terror", wofür lange die Operation Enduring Freedom stand; der UN-mandatierte Stabilisierungsansatz von Isaf zur Sicherheitsunterstützung, bei der Ausübung von Gewalt bis 2006 (Bundeswehr bis 2009) ausgesprochen zurückhaltend geschah.
Aus weltanschaulicher KDV-Sicht sind Soldaten gleich Soldaten, alles potenzielle Todesbringer. In der Wirklichkeit besteht aber ein fundamentaler Unterschied zwischen Soldaten, die z. B. im Rahmen der Wehrmacht, des Vietnam- oder Tschetschenienkriegs zum Einsatz kamen, und solchen, die nach den Regeln der UN-Charta zum Schutz vor illegaler Gewalt, zur internationalen Rechtsdurchsetzung, zur Gewalteindämmung und Friedenssicherung eingesetzt werden. Wenn Bundeswehrsoldaten als Staatsbürger in Uniform nicht in einen Topf geworfen werden wollen mit den ausdrücklichen "Kriegern" mancher anderer Streitkräfte, von der (Ur-)Großvätergeneration ganz zu schweigen, dann ist das vollauf berechtigt.
Seit 2008/09 gibt es auch für die Bundeswehr in Afghanistan ein Nebeneinander von gewaltarmem Stabilisierungseinsatz z.B. in der Provinz Badakhshan und einer Guerillakriegssituation in Kunduz. So unbestreitbar in einzelnen Distrikten und Provinzen eine (Klein-)Kriegssituation herrscht, so falsch ist es, den Gesamteinsatz der Bundeswehr als Kriegseinsatz zu bezeichnen. Das würde nicht nur dem Mandat widersprechen. Das hätte auch enorme Auswirkungen auf die Operationsführung, die Einsatzregeln. Folge wären eine Entgrenzung der Gewaltanwendung und eine Radikalisierung des bewaffneten Konflikts.
"Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan."
Völlig richtig. Nur hat das seit 2001 auch niemand aus der deutschen verantwortlichen Politik behauptet. Und Bundeswehroffiziere sind diejenigen, die am deutlichsten die Vorstellung zurückweisen, mit Waffen Frieden schaffen zu können. Die Frage ist nur, wie in einem Umfeld vieler Gewaltakteure (mit reichlich Kämpfern, Waffenarsenalen und Konfliktstoff) Schutz vor illegaler Gewalt gewährt und ob ohne Waffen Staatlichkeit und Gewaltmonopol aufgebaut werden können. Auffällig ist übrigens, wie wenig hierzulande die Erfahrungen von UN-Friedensmissionen eine Rolle spielen, die in vielen Post-Konflikt-Ländern Minimalschutz gewährleisten. Kamen in irgendeiner Weihnachts- und Neujahrspredigt die humanitären Großskandale von Ostkongo und Darfur irgendwo zur Sprache?
"Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen."
Darauf dränge auch ich immer und immer wieder bei meinem Einsatz für zivile Krisenprävention und Friedensförderung. Und unbestreitbar besteht ein krasses Missverhältnis zwischen Aufwendungen für militärische Sicherheitspolitik und denen für zivile Konfliktbearbeitung und Peacebuilding. Allerdings können solche Worte auch schnell zu einer appellativen Leerformel werden.
Denn nötig sind für Friedensförderung vor allem Kompetenz, Fachleute, Fähigkeiten, Investitionen – und zuallererst Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit für das, was es an hoffnungsvollen und wirksamen Bemühungen, neuen Instrumenten und Akteuren der Friedensförderung gibt. An dieser Aufmerksamkeit mangelt es extrem. Beispiel Afghanistan: Bei fast jedem meiner inzwischen 14 Besuche dort erlebte ich bewundernswerte Projekte, Initiativen, Menschen, auch partielle Fortschritte in einem sich verdüsternden Umfeld. Deutsche EntwicklungshelferInnen wie Polizisten beklagen immer wieder, dass ihre Arbeit hierzulande kaum bis gar nicht wahrgenommen werde, völlig zugedeckt von der vorherrschenden Militärfixiertheit auf allen (!) Seiten des politischen Spektrums.
Insofern widerspreche ich auch Ihrer Feststellung "Nichts ist gut in Afghanistan": Als wären all die anderen Aufbau- und Friedensanstrengungen in Afghanistan nicht der Rede wert. Unbestreitbar werden sie überschattet und zunehmend infrage gestellt durch die Konfliktverschärfung seit 2006, durch den in verschiedenen Landesteilen wuchernden Krieg. Aber diese Aufbaubemühungen sind die einzigen Chancen, dort überhaupt auch den Frieden gewinnen zu können. Wer diese Chancen nicht wahrnimmt und anpackt, hat sowieso schon verloren! (Hier sehe ich übrigens ein großes Versagen breiter Teile der deutschen Friedensbewegung, wo eine unterschiedslose Totalkritik der Isaf-Militärs einhergeht mit einer notorischen Nichtbeachtung der konkreten Friedenskräfte und -potenziale. Das produziert Erschrecken ohne jede Hoffnung. Friedenspolitische Wirkungslosigkeit ist damit vorprogrammiert.) Um Aufmerksamkeit für Entwicklungen und Ereignisse jenseits des Bad-news-Mechanismus zu fördern, stelle ich seit Sommer 2007 "Better News statt Bad News aus Afghanistan" zusammen, parallel zu meinen Bad-news-Veröffentlichungen zur Unsicherheitslage. Die jüngsten Ausgaben füge ich Ihnen bei.
Ihre tiefe Beunruhigung über die Entwicklung in Afghanistan teile ich ebenso wie Ihre Grundbotschaft für mehr Fantasie (Einsatz, Ressourcen) zur Friedensförderung.
Mit meiner Wortmeldung wollte ich dazu beitragen, dass die dringend notwendige breite Debatte um den Krieg in Afghanistan, um Wege der wirklichen Kriegsbeendigung nicht in einem Schlagabtausch von Gesinnungen und Bekenntnissen stecken bleibt, sondern mit mehr Sorgfalt geführt und dadurch produktiver wird.
Bei nahezu allen Trauerfeiern für in Afghanistan umgekommene und gefallene Bundeswehrsoldaten und Polizisten war ich dabei. Hier fühlte ich immer wieder besonders deutlich, wie sehr die Politik in der Pflicht ist, den eigenen Soldaten – und Polizisten, Diplomaten, Entwicklungshelfern – nur solche Einsätze zuzumuten, die nicht nur legitim, sondern auch friedens- und sicherheitspolitisch dringlich, sinnvoll, aussichtsreich und leistbar sind.
Das erfordert höchste Sorgfalt im Hinsehen, Sprechen, Handeln – nicht nur bei den entsandten Soldaten, sondern vor allem auch bei der Politik, aber auch in der Gesellschaft. Die Politik war hier bisher kein Vorbild.
Unabhängig von unserer politischen Einschätzung des Afghanistaneinsatzes haben die von Bundesregierung und Bundestag dorthin entsandten Soldaten, Entwicklungshelfer, Polizisten, Diplomaten die Aufmerksamkeit, die Anteilnahme und Unterstützung aller Bürgerinnen und Bürger verdient. Wir dürfen sie nicht ignorieren und alleinlassen.
Mit besten Wünschen für ein friedlicheres 2010 grüßt Sie herzlich
gez. Winfried Nachtwei
Münster, im Januar 2010