Kohle hat keiner, aber mit Nebenjobs schlagen sie sich durch. In der Nachbarwohnung vermuten sie in einem skurrilen Subplot ein geheimes Bordell, in den Nachrichten konkurrieren Meldungen über eine Verbrechensserie mit der anstehenden Wahl und die Jugendlichen wachen meistens verkatert auf. Nach der witzigen Einleitung, die den Alltag im Apartment zeigt, stellt Yukisada seine Charaktere in vier losen Kapiteln vor. Die lustige „Parade“ wird gespenstisch. Die Wandlung in einen Thriller beginnt mit dem Auftauchen von Satoru, der eines Morgens aus dem Badezimmer kommt, als wäre er schon immer da gewesen. Einen ganzen Tag brauchen die Jugendlichen, bevor ihnen dämmert, dass keiner Satoru kennt oder sich erinnert, ihn eingeladen zu haben. Soll er ruhig bleiben, keinen stört es, keinen kümmert es. Das wirkt aufgeschlossen und hilfsbereit – bis klar wird, das nichts die Protagonisten besonders kümmert. Sie leben nicht zusammen, sondern nebeneinander her. Die Sorgen ihrer Mitbewohner hören sie sich an, wenn diese sich wiedereinmal ausheulen. Nichts berührt sie, bestenfalls sind sie milde belustigt. Ihr eigenes und fremdes verdrängtes Leiden ist ihnen nur erträglich, wenn sie die Augen davor fest verschließen. Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster. Das „Monster der emotionalen Abhängigkeit“ nennt es Mirai. Wenn sie es wittern, töten die Jugendlichen es. Kotomi schmachtet ihrem Schauspieler-Freund täglich im selben kitschigen Liebesfilm an, den sie auf Video ansieht. Wie erniedrigend ihre Scheinbeziehung zu ihm ist, bei der sie ihn auf Abruf in Hotelzimmern besucht, bemerkt sie nicht. Ihre Depressionen erstickt Kotomi mit ihren Romantikfantasien, Mirai ertränkt sie im Alkohol oder schaut sich eine selbstgefertigte Videokompilation aus Vergewaltigungsszenen an. Naoki geht joggen. Aus seiner Beobachterperspektive erkennt Satoru die Gefühlskälte seiner Mitbewohner, die er teilt. Mirais Gewaltvideo überspielt er mit Kotomis Kitschfilm. Ein Betäubungsmittel gleicht dem anderen, beides ist – pervers? Gewöhnlich? Bedeutungslos.
"Parade“ ist eine bitterböse Allegorie auf die junge Generation Japans. Schicht für Schicht enthüllt Yukisadas Romanverfilmung den psychologischen Horror hinter der emotionalen Abstumpfung seiner Charaktere. Seine gespenstische „Parade“ mündet in ein Grand-Guignolesques Ende. Verstörend, nicht weil es unvorhergesehen trifft, sondern leise erahnt wurde. Yukisadas Charaktere taumeln aus grotesk-komischen Situationen in bedrückend realistische Szenen. Wie verstörte Kinder sind sie ihrer desinteressierten Umgebung ausgeliefert und verstören im nächsten Moment mit eben jener Gefühlskälte, unter welcher sie selbst leiden. Ihr Teilnahmslosigkeit ist eine Rüstung, ohne die sie der seelischen Verrohung um sie herum schutzlose ausgeliefert wären. Ein Ablegen dieser Rüstung wird umgehend durch eine psychische Verletzung bestraft. Selbst zärtliche Momente haben einen verborgenen egoistischen Zweck. Ein Egoismus, der in einer egoistischen Welt gerechtfertigt ist. Wenn kein anderer an einen denkt, muss man es eben selbst tun. Erwachsene begleiten die düster-traurige „Parade“ nur als ausbeuterische oder gewalttätige Figuren. Der größte Gefallen, welchen sie ihren Kindern tun können, ist, sie wegzujagen. Wie es Ryosukes Vater formulierte. Vielleicht ist „Parade“ für die moderne japanische Gesellschaft ein wenig das, was Hanekes „Das weiße Band“ für die deutsche der Vorkriegszeit ist. Auch wenn es weit hergeholt scheint, trifft es die verstörende Wirkung des Films.
Titel: Parade
Land/Jahr: Japan 2010
Genre: Drama/Thriller/Komödie
Regie und Drehbuch: Isao Yukisaida
Darsteller: Kento Hayashi, Karina, Keisuke Koide, Tatsuya Fujiwara, Shihori Kanjiya
Laufzeit: 118 Minuten
Bewertung: *****