Dennoch war diese Durchsicht heilsam und lehrreich, denn sie erklärt, warum tatsächlich in Rüsselsheim dieser Künstlerin das erste Mal mit einer eigenen retrospektiven Werkschau 1905 bis 1960 hervortritt und sie erläutert damit „Zwischen russischer Tradition“ auf der einen Bezugsseite und „europäische Moderne“ auf der anderen. Die Opelvillen, deren Entstehung und Nutzung als Kunstinstitute wir ein andermal vertiefen wollen, bildet den bundesrepublikanischen Auftakt der Gontascharowaschau, die nur zustande kommen konnte, weil in der Zusammenarbeit mit der Tretjakow Galerie, Moskau und anderen Leihgebern nun 71 Werke – hauptsächlich Ölmalerei, fünf Aquarelle und drei Zeichnungen – nach Rüsselsheim kamen, die danach weiterwandern in die Kunsthalle St. Annen in Lübeck und das Angermuseum Erfurt, respektable Kunstadressen.
Warum uns der Titel so interessierte, hat damit zu tun, daß dort nicht von russischer Avantgarde gesprochen wird, auf die die obigen Revolutionskünstler verpflichtet werden, sondern von der russischen Tradition, der die europäische Moderne gegenübergesetzt wird. Das allerdings ist ein – erlaubter – Kunstgriff. Denn tatsächlich haben sich all diese Künstler, die sich im Dienste einer Fortschrittsidee sahen, aus der russischen Volkskunst heraus entwickelt. Das gilt sogar für Chagall, der nur deshalb in diesem Kontext nicht erwähnt wird, weil er früh in Frankreich hängenblieb. Das gilt auch für die Generation kurz zuvor, die die Klassische Moderne und den Expressionismus mitbestimmte, aber ebenso aus der russischen Folklore sich speiste: Kandinsky, Jawlensky, Werefkin.
In Rüsselsheim empfängt einen „Spanierin mit Fächer“, 1925, da war die 1881 geborene Gontscharowa also 44 Jahre alt. Ein eigenartiges Bild, anziehend und irgendwie zu spät gekommen und in die Abteilung Kunsthandwerk ausgeliehen. Das ist nicht falsch, denn wie alle russischen und viele andere Künstler dieser Zeit, war Fortschritt in der Malerei gleichbedeutend mit dem Zusammenschluß der Künste auf der Bühne, also Bühnenbild und Kostüme oder Tanz und Musik. Nur wir haben heute wieder die Kategorisierung des 19. Jahrhunderts übernommen und verteilen in die Schubladen der ’echten` Kunst und in die der angewandten. Picasso und seine russischen Mitstreiter hatten das noch anders gesehen. Dieses Bild zu spät gekommen zu bezeichnen, heißt auf seine künstlerischen Mittel einzugehen.
Die Spanierin mit Fächer tritt nämlich so rayonistisch, wie kubistisch, wie graphisch gevierteilt und blumengemäß zusammengesetzt auf , wo nur der Fächer in seiner ursprünglichen Gestalt bleibt, weil er die kubistischen/rayonistischen Formen schon als Produkt verkörpert. Ehrlich gesagt, waren wir zuerst verwundert, warum gerade dieses Gemälde an den Anfang gestellt wurde, erklären uns aber nach der Besichtigung völlig damit einverstanden, weil dies Gemälde die Sonderstellung der Gontscharowa zwischen Heimat in Rußland und Exil in Frankreich genauso einfängt wie die Blumen der Heimat und die Stoffe der Elegance in Paris, wie die Folklore, auch wenn es spanische ist, wie die Tänzerin auf der Bühne. So wird es einem im Verlauf der Ausstellung immer wieder ergehen, daß einen die Bilder der russischen Künstlerin an andere erinnern, weil sie sich in vielen Stilen versuchte und auch thematisch eine breite Palette hatte. So etwas ist spannend, erfordert aber auch ein weites Herz, weil man sich mit vielem auseinandersetzen muß. Aber, wer das scheut, braucht auch einfach sich nur die Bilder zu betrachten, die von starken Farben getragen sind, denn die Leuchtkraft, das eigentlich Malerische an der Gontscharowa schlägt in allen Perioden durch.
Diese nun haben die Ausstellungmacher in drei unterteilt: Primitivistin, Avantgardistin und Emigrantin, die sich angliedern an ihre Lebensabschnitte. Sie ging nach großen Ausstellungserfolgen in Rußland mit bis zu 800 Bildern weit größeren als alle anderen damaligen Künstler, mit dem Lebensgefährten und Künstlerkollegen Michail Larionow 1917 nach Paris, wollte der russischen Revolution wegen nicht mehr zurück, blieb also, obwohl ’süchtig nach dem Osten` im Westen, kannte dort den Kreis der Künstler der Moderne und starb relativ unbekannt 1962. Tatsächlich wäre aus diesem Leben viel zu erzählen, was auch bei Führungen und gesonderten Veranstaltungen eine Rolle spielt. Wir aber wollen hier lieber auf die farbenfrohen Anfänge verweisen, die ihr Renommee in Rußland bestimmten. Von Anfang an haben diese Ölbilder auch eine graphische Seite. Da sind Ornamente im Hintergrund wie blühende Zweige, aber auch wie Blumentapeten oder Vierecke oder irgendwelche andere Raster, die dem Bild Halt geben, es aber auch aufteilen und das Bild um seine Zentrale bringen.
Eine Zergliederung findet oft statt, was bei den pointilistischen Versuchen ja methodenimmanent ist. Ach, wir sehen bei diesen Bildern auch die Großmeister von van Gogh über Gauguin, auch Matisse. Warum auch nicht, denn die Malerei einer Zeit trägt viele Handschriften und es bleibt genug Eigenes dabei, wie im Selbstbildnis mit gelben Lilien von 1907/08, das der Welt sagen kann: „Ja, das bin ich, die Gontscharowa, und ich male mich selbst mit blühenden Blumen, aber weiß um meine Herkunft, denn die verwandten Künstler hängen hinter mir alle an der Wand.“ Ja, doch, diese Bilder sprechen von einer unbändigen Freude am Malen und am Stilisieren und in den Jahren 1908/09 sind die Stilleben eine sehr zeitgemäße Malsprache.
Um dieselbe Zeit setzt die avantgardistische Phase ein, die insbesondere in Frauenakten mit kubistischem Einschlag Niederschlag findet, aber auch in merkwürdigen archaischen Wesen, zwischen afrikanischer Plastik, expressionistischen Steinskulpturen und Wurzelsepp. Auf einmal wird die Farbpalette dunkler, Ikonen nehmen einerseits die Tradition in der Form auf, finden aber eine neue Farben- und Ornamentensprache. Einerseits kubistisch, dann wieder angelegt an die Heiligenvitae absolut traditionell in starken Farben, bringt die Gontscharowa auch ihre weiteren Bilder zwischen Tradition und Moderne. Als Emigrantin schließlich läßt sie sich auf das Künstlerdasein der damaligen Moderne ein, findet Erfüllung einerseits in den Erinnerungen an die russische Heimat wie in „Frühstück“ von 1924, wo man sich am Tisch mitten im Wald jedes Stück von Tschechow vorstellen kann, mehr als ein ’Frühstück im Freien` beispielsweise. Andererseits bedient sie den Kunstmarkt der Zeit mit Entwürfen zu Bühnenbildern, Kostümen und malt ganz spät noch und dann fast abstrakt Raumbilder, die dem Sputnik im Weltall, aber auch den großdimensionierten Brücken gelten. Doch nie wieder findet sie eine solche zur Heimat Rußland. Insofern ist das Leben und Werk der Natalja Gontscharowa auch eines, das zeigt, woher die Wurzeln kommen und wohin sie nach und nach verkümmern, wenn man sich fern der Heimat fühlt.
* * *
Ausstellung: bis 24. Januar 2010
Katalog: Natalja Gontscharowa. Zwischen russischer Tradition und europäischer Moderne, hrsg. von Beate Kemfert mit Alle Chilova, Verlag Hatje Cantz 2009
Internet: www.opelvillen.de