So auch bei Walter Jens, Schriftsteller, Wissenschaftler, Hochschullehrer, langjähriger Präsident der Westberliner und schließlich der vereinigten Akademie der Künste Berlin.
Mit dem Ehepaar Jens in langjährigen Interviews befasst, wird Grimm Zeuge der Katastrophe im Dezember 2006. In einer Aufführung des Requiems von Wolfgang Amadeus Mozart durch die Sinfonietta Potsdam, in der Walter und Inge Jens Texte von Walter Jens lesen, sagt er plötzlich leise: »Tut mir leid. Ich kann nicht mehr.« Jens kann die Texte nicht mehr lesen. Der Gelehrte wird von fortschreitender Demenz betroffen. Er ist zu keiner Arbeit mehr fähig. Die Kommunikation mit seiner Umwelt reißt ab.
Thomas Grimm zeigt ein letztes großes Interview mit beiden Schriftstellern. Themen sind ihre Freundschaft mit Hans Mayer und Ernst Bloch, die aufregenden Lesungen in der Gruppe 47, der Entschluss, nach seiner Emeritierung den Vorsitz der Akademie der Künste zu übernehmen, die Konflikte und Lösungen bei der Vereinigung der Akademien West-Berlins und der DDR, die Aufnahme von Deserteuren der US-Armee im Hause Jens, die Verletzung durch die öffentliche Behauptung, Walter Jens habe eine NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen. Schließlich die bedeutendste Arbeit Inge und Walter Jens‘, »Frau Thomas Mann«, eine Hommage an Katia Mann.
Der Film konzentriert den Blick auf die Rolle von Inge Jens in der fünfzigjährigen wissenschaftlichen und schriftstellerischen Zusammenarbeit des Ehepaars: Frau Walter Jens. Wie lebt Inge Jens mit dem Manne, der aufgehört hat, sie zu kennen, wie verarbeitet sie seinen neuen Zustand, aus welchen Quellen nährt sie ihre Selbstbehauptung, ihre Persönlichkeit?
»Es ist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe. Ich habe einen Mann geheiratet, mit dem ich mich unterhalten konnte… Ich will nicht, dass Antidepressiva ihm seine Lage zu Bewusstsein bringen. Solange er sie nahm, hat er gemerkt, was ihm fehlt. Es geht ihm jetzt so gut, wie es ihm gehen kann. Er muss nicht noch wissen, dass er krank ist. Ich bin dankbar, dass es uns so lange so unverhältnismäßig gut gegangen ist. Seine Krankheit gehört zu meinem Leben. Die Wehmut bleibt immer – aber damit muss ich leben.«
Inge und Walter Jens‘ Leben mit seinem Leiden macht das Schicksal Hunderttausender Menschen bewusst, die nicht allein, sondern eben gemeinsam von der Krankheit getroffen werden. Es in Würde zu bewältigen, scheint unmöglich, ist zumindest unglaublich schwer. Die meisten Menschen stehen der Krankheit hilflos gegenüber oder geben dem Kranken eine Schuld. Der Film macht nachdenklich: wie würde ich mich verhalten? Er zeigt den Umgang mit einem Demenzkranken, mit dem dessen Würde gewahrt bleibt.
Wie Menschen die Krankheit bewältigen, die nicht in gut gesicherten finanziellen Verhältnissen leben, bleibt die Frage, die zu beantworten Grimm sich nicht vornehmen konnte. Demenz aber ist eine Sorge, über die selten genug öffentlich so frei gesprochen wird, wie Inge Jens es tut. Vor der öffentlichen Voraufführung des Films in der Akademie der Künste hatte sie Zweifel, ob ihr Mann nicht vorgeführt werden könnte. Die Reaktionen des Publikums sprachen vom Gegenteil, die Zuschauer zeigten sich dankbar für das offene Herangehen an dieses schwierige Thema. Ein drängendes Problem – aber im Fernsehen wieder spät in der Nacht.
Frau Walter Jens, Dokumentarfilm von Thomas Grimm, Produktion von ZEITZEUGEN-TV, Deutschland 2009, 87 Minuten, Erstausstrahlung am 20.12.2009, 22.25 auf RBB.