In meinem zwei Jahre nach dem Mauerbau erschienen DDR-Kinderbuch „Deutsche Heimatsagen“ heißt es: „Die Riesen lebten am Rhein, sie lebten in Mecklenburg und in anderen Gegenden unseres Vaterlandes. Mit Riesenschritten übersprangen sie alle Grenzen. Wir wissen, dass die Zerreißung Deutschlands eine willkürliche, unnatürliche Maßnahme ist, die nicht von langer Dauer sein kann.“ Das war mir im Kindesalter aus der DDR in den Westen Geratenem, der in den Sommerferien aus Hessen nicht gen Italien, sondern zu Verwandten nach Thüringen reiste und dort im August 1961 angstvoll die Grenzschließung erlebte, Trost und Perspektive. Anfang der siebziger Jahre links engagiert, scheiterte ich im Kriegsdienstverweigerungs-Verfahren mit der Begründung, es wäre ein Bürgerkrieg, müsste ich als Bundeswehrsoldat auf meinen Cousin schießen, der in der DDR Berufssoldat war. Wie der ebenfalls aus der DDR stammende „Wolf Zieger“ in Martin Walsers Novelle „Dorle und Wolf“ betrieb ich dann meine eigene Geheimdiplomatie mit dem DDR-„Ministerium für Nationale Verteidigung“.
Westdeutsche Linke fühlten sich stärker, wenn sie mit einem Bein in Moskau, Ostberlin, Havanna oder Peking standen. Dort wehte der Mantel ihr Geschichte, nach dem sie griffen. Aber schon in den siebziger Jahren stolperten Einige über einen Inter-Nationalismus, den das Leid des kleinsten Völkchen am anderen Ende des Globus erregte, der aber siebzehn Millionen Landsleute dem Roten Kreuz überließ. Nachdem 1975 im Rotbuch-Verlag als „Anstoß zu einer notwendigen Debatte“ von Tom Nair, Eric Hobsbawm und Régis Debray „Nationalismus und Marxismus“ erschienen war, forderte Peter Schneider in dem Sammelband „Was ist heute noch links?“ 1981: „Ein gemeinsames Deutsch zu sprechen, das eben darin besteht, sich gegen das Kirchenlatein der Staatsreligionen in Ost und West zu verteidigen“. Wegen seiner Erzählung „Der Mauerspringer“ rubrizierte eine Antifa-Kartei ihn als „Rechten“. Schneiders der DDR entflohener SDS-Genosse Rudi Dutschke hatte schon 1973 unter Pseudonym die „Wiedervereinigung zwischen Rhein und Oder-Neiße“ gefordert und damit den „Wiedervereinigungsanspruch“ aktualisiert, den er 1967 in Günter Gaus’ Fernsehinterview erhoben hatte. Thomas Schmid, ein Mitkämpfer Joschka Fischers im „Revolutionären Kampf“, der zum „Welt“-Chefredakteur avancierte, bekannte 1978 in einem Wagenbach-Taschenbuch, er wolle sein „Deutschsein nicht länger leugnen“, und „wer das aber faschistoid nennt, der beeindruckt mich nicht mehr“.
Der russische Dissident Andrei Amalrik prophezeite bereits 1970 im Diogenes-Taschenbuch „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ Veränderungen in Europa, weil der „Druck der Sowjetunion“ wegfallen und es dann „vermutlich zur Wiedervereinigung Deutschlands kommen“ werde. Bei Maoisten schärften die Außenpolitik Chinas und die Proletkult-Kostümierung mit der Sozialfaschismus-These den Blick für Teilung und Unterdrückung unter linkem Vorzeichen. Berufsrevolutionär Karl Schlögel lobte 1981 in der Selbstkritik „Partei kaputt / Das Scheitern der KPD und die Krise der Linken“, dass „die nationale Frage für den revolutionären Prozeß rehabilitiert“ wurde; in seiner Dissertation berücksichtigte er Amalriks Essay – das neue Deutschland bescherte Schlögel in Frankfurt an der Oder die Professor für osteuropäische Geschichte.
Ende November 1981 fuhr ich mit dem Ex-Maoisten Florian Mausbachvnach Bonn zur Anti-Breschnew-Demonstration. Bei Wiedervereinigungsspekulationen kamen wir allerdings nicht auf die Idee, dass der Peking-Rundschau-Übersetzer ein Jahrzehnt später als Bundesbaudirektor beim Bonn/Berlin-Hauptstadtumzug Wiedervereiniger auf höchster Ebene wurde.
Andere kamen vom Regionalismus zur nationalen Frage. Diether Dehm, heute Linkspartei-Bundestagsabgeordneter, beschwor 1984 im Zupfgeigenhansel-Liederbuch einen „neuen nationalen Aufbruch“: „Der deutsche Wald, die Heimat“ werde von rot-grünen Linken gerettet. Den Impetus gab der Streit über neue Mittelstrecken-Atomwaffen in Europa. Interesse an der deutschen Teilung entstand, obwohl familiäre Ost-West-Bindungen verblassten. Der Applaus der 300.000 Demonstranten 1981 im Bonner Hofgarten für Erhard Epplers Appell, „dass die Deutschen in beiden Staaten gemeinsame Interessen haben“, und für Heinrich Albertz’ Klage über das „geteilte Land“ als „Schießplatz der Supermächte“ kündete die Renaissance der Nation an. Paul Erdmans Roman „Die letzten Tage von Amerika“, in dem die Nachrüstung die deutsche Einheit gebiert, galt 1982 als Geheimtip. Und der linke Publizist Wolfgang Pohrt polemisierte gegen die Friedensbewegung als „deutsch-nationale Erweckungsbewegung“.
Im Fernsehen lief Edgar Reitz „Heimat“, und auf der Kinoleinwand lasen Linke 1979 in Alexander Kluges Film „Die Patriotin“: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück: DEUTSCHLAND“. Im gleichen Jahr sprach Martin Walser über die „Wunde namens Deutschland“ und eröffnete Jürgen Habermas den Jubiläumsband 1000 der „edition suhrkamp“ mit dem Kapitel „Die nationale Frage, wiederaufgelegt“. Dem folgte 1981 Peter Brandts und Herbert Ammons Rowohlt-Dokumentensammlung „Die Linke und die nationale Frage“. Wolfgang Venohr versammelte 1982 in „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“ Publizisten, Historiker und Juristen von links bis rechts. Wolfgang Seiffert, der als vom Bundesgerichtshof Verurteilter in die DDR geflohen und dort Völkerrechtsprofessor geworden war, siedelte 1978 wieder in die Bundesrepublik über, um bei Burschenschaftern und linken Pazifisten, bei Grünen, Sozial- oder Christdemokraten und in allen möglichen Medien die Wiedervereinigung zu propagieren. Mir schickte er die Druckfahnen seines Piper-Taschenbuchs „Das ganze Deutschland“ (1986) mit der Bitte um Anregungen und Korrekturen.
In bizarren Zeitschriften wurden Antworten auf die nationale Frage gesucht und alte Fronten aufgebrochen: In der 1973 als maoistisch-antiimperialistisch gegründeten „Befreiung“ prophezeite der von rechts kommende Kultursoziologe Henning Eichberg 1980 eine "Balkanisierung", deren Stattfinden der marxistische Historiker Eric Hobsbawm erst 2004 in seinem Buch über "Nationen und Nationalismus" registrierte; in der von Rechten gegründeten Zeitschrift „wir selbst“ schrieben Westlinke und DDR-Autoren wie Wolf Deinert oder Lutz Rathenow; der Oldenburger Soziologieprofessor Gerd Vonderach erörterte mit mir, was man im und um das Periodicum „Gezeiten / Archiv regionaler Lebenswelten zwischen Ems und Elbe“ machen könnte.
Die in der Linken minoritären Nationalen sahen, dass auch bei CDU-Oberen das Thema unpopulär war. Das zeigte der Auftritt amerikanischer Konservativer in der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Fast verdutzt waren die Deutschen, als ihnen die Freunde von drüben einen guten Schuß Nationalismus empfahlen“ (F.A.Z. vom 10. September 1981). Zwei Jahre vor dem Mauerfall debattierten wir in kleinem Kreis in Wiesbaden mit dem Völkerrechtsprofessor Theodor Schweisfurth (SPD) und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Bernhard Friedmann. Der Obmann für den Verteidigungshaushalt, der eine „operative Wiedervereinigungspolitik“ gefordert hatte, was Helmut Kohl als „blühenden Unsinn“ abkanzelte, berichtete über eine deutschlandpolitischen Fraktionssitzung, in der es heiß herging („Da hat schon mal ein Aschenbecher gewackelt“) – er allein gegen alle; als Kohl vom Deutschlandbesuch Präsident Reagans berichtete, habe Friedmann ihn erst an dessen Forderung „Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“ erinnern müssen. Bei den Frühjahrstreffen der Nationalen im fränkischen Wildbad war zu hören, dass der sowjetische Emissär Nikolai Portugalow in Deutschland herumreiste ohne im politischen Establishment Interesse an einer Wiedervereinigung zu finden. Am 21. Oktober 1989 fuhr ich den SPD-Politiker Karsten Voigt von einer Debatte mit dem „Welt“-Journalist Enno von Loewenstern nachhause – der Sozialdemokrat echauffierte sich über das, was jener in einem Frankfurter Bürgerhaus prophezeit hatte: In wenigen Monaten geht die DDR unter und die Wiedervereinigung kommt.
Als die Linksfraktion 2007 erklärte, eine von Professor Dietrich Murswiek ausgearbeitete Bundesverfassungsgerichts-Klage gegen Tornado-Einsätze in Afghanistan zu übernehmen, schien die Neuvereinigung vollbracht, hatte Murswiek doch 1970 in Kassel als junger Rechter beim Treffen von Bundeskanzler Brandt mit DDR-Ministerpräsident Stoph die DDR-Flagge vom Mast gerissen. Aber vielleicht wissen geschichtsvergessene Linke das gar nicht mehr.
Anmerkung:
Erstveröffentlicht in Linksnet – für linke Politik und Wissenschaft – unter www.linksnet.de am 09.11.2009. Alle Rechte beim Autor.