Berlin, Deutschland (Weltexpress). Mit der zweiten Vorstellung von „Estado Vegtetal“ von Manuela Infante endete der diesjährige Stückemarkt im Haus der Berliner Festspiele. Im Anschluss wurde der chilenischen Autorin und Regisseurin der Werkauftrag des Stückemarkts zuerkannt. Manuela Infante wird am Schauspielhaus Bochum eine neue Arbeit realisieren.
Der Ideenreichtum und die brillante Umsetzung philosophischer und wissenschaftlicher Denkprozesse in eine kreative, unterhaltsame und spannende Performance, hielten das Publikum bei „Estado Vegetal“ 90 Minuten lang in Atem und eröffneten überraschende Perspektiven.
Dank englischer Übertitel und der präzisen Darstellung der grandiosen Performerin Marcela Salinas konnten Zuschauer*innen auch ohne Spanischkenntnisse der Handlung leicht folgen. Dabei verläuft das Geschehen in diesem Stück nicht geradlinig, sondern auf verschlungenen Wegen. In menschliche Aussagen mischen sich Pflanzen ein, vegetative Ausdrucksformen umranken und überwuchern anthropozentrische Logik, machen Angst und erwecken Hoffnungen.
Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Unfall: Ein Baum an einer Wohnstraße ist in eine elektrische Leitung hineingewachsen. Am späten Abend erlöschen schlagartig die Lichter der Häuser und Straßenlaternen. Ein junger Mann, irritiert durch die plötzliche Dunkelheit, fährt mit seinem Motorrad gegen den Baum.
Lange schon hat eine Anwohnerin die Entfernung des Baumes gefordert. Der Leiter des Grünflächenamts hatte nicht einmal für das Zurückschneiden der Äste gesorgt. Immerhin stand der Baum schon an seinem Platz, bevor dort Häuser und eine Straße gebaut wurden.
Mit tänzerischer Leichtigkeit springt Marcela Salinas in unterschiedliche Rollen, ist Frau, Mann, Kind und verwandelt sich auch in eine Topfpflanze. Licht- und Toneffekte erschaffen eine geheimnisvolle Atmosphäre, in der pflanzliche und menschliche Lebenswelten einander begegnen.
Pflanzen könnten die ganze Erde überwuchern und sie in einen Garten Eden verwandeln. Ob die Menschheit vorher aussterben müsste, oder ob Menschen die notwendigen Fähigkeiten entwickeln könnten, mit Pflanzen zu kommunizieren, das steht noch dahin.
Begonnen hatte der Stückemarkt mit „Pussy Sludge“ von der US-Amerikanerin Gracie Gardner. Das Stück gilt, allein wegen des Titels, der zugleich der Name der Protagonistin ist, in den USA als unaufführbar. Im Haus der Berliner Festspiele war es in deutscher Übersetzung als Szenische Lesung vor begeistertem Publikum auf der Seitenbühne zu erleben.
Weibliche Sexualität war eines der wichtigsten Themen in der Frauenbewegung der 1970er Jahre. Den eigenen Körper aus der Scham- und Schmuddelecke zu befreien, dieses Ziel haben Frauen, wenn auch ganz sicher nicht alle, erst Jahrzehnte später erreicht. Gracie Gardner gehört einer jungen Frauengeneration an, die mutwillig und unerschrocken konventionelle Schamgrenzen übertritt und dabei, ganz souverän, auch Selbstironie verwendet.
Der Plot des Stücks scheint auf den ersten Blick tatsächlich etwas eklig zu sein: Eine junge Frau, Pussy Sludge, lebt in den stinkenden, brodelnden Sümpfen eines Nationalparks, menstruiert Rohöl und onaniert unentwegt.
Pussy Sludge ist jedoch ganz und gar nicht abstoßend und widerwärtig, sondern eine sympathische, eigenwillige junge Frau. Sie ist überrascht, sowohl über ihre Rohölproduktion als auch über ihr ständiges Bedürfnis, sich selbst zu befriedigen. Sie hat ihr Elternhaus verlassen, um das Geheimnis dieser Vorgänge zu ergründen. Ihre Mutter will sie mit einem jungen Mann verkuppeln. Den bezeichnet Pussy Sludge folgsam als ihren Freund, unterhält sich jedoch nur mit ihm. Sie verliebt sich in eine Frau und erlebt eine berauschende sexuelle Begegnung mit ihr.
Die Parkwächter*innen beäugen Pussy Sludge misstrauisch, denn die ist nicht bereit, sich als Tourist*innenattraktion vermarkten zu lassen und hat auch schon neugierige Männer angebellt. Auch den Vorschlag, ihr Rohöl zu verkaufen, weist Pussy Sludge entschieden zurück.
Eklig ist, wie sich herausstellt, nicht die junge Frau im Sumpf, sondern viel eher die Welt der Normalität. Nachdem deren Vertreter*innen vergeblich versucht haben, Pussy Sludge dorthin zurückzuholen, erzählen sie ihr von ihren eigenen Schicksalen, ihrem verkorksten Leben und ihren kaputten Ehen und quälenden Liebesbeziehungen. Lauter frustrierte, verzweifelte Menschen, und nur Pussy Sludge ist glücklich verliebt.
Als auch ihre Geliebte verlangt, sie solle den Sumpf verlassen, will Pussy Sludge endlich ihr Geheimnis ergründen. Es ist verborgen im Sumpf, vor dem sie sich fürchtet, denn wenn sie hineingreift, bekommt sie Stromschläge. Schließlich überwindet sie ihre Ängste, wird vom Sumpf verschlungen, zermalmt, dann aber wieder zusammengesetzt und kann unversehrt nach Hause zurückkehren. Das Öl strömt nicht mehr aus ihr heraus, aber die Heimkehr in die Normalität gelingt Pussy Sludge trotzdem nicht, denn kaum hat sie ihr Elternhaus betreten, muss sie kotzen.
Elsa-Sophie Jach hat das Stück über die Rebellion und Selbstfindung einer jungen Frau auf einer fast leeren Bühne szenisch eingerichtet, auf der fünf Schauspieler*innen mit großem Ernst die skurrilen, verspielten Texte interpretieren und die absurde Komik elegant zur Geltung bringen.
Julia Riedler als Pussy Sludge ist kein Opfer, viel eher eine Heldin, mutig und klug und, ebenso wie ihre äußerst verführerische und rebellische Geliebte (Maryam Abu Khaled), den verdrucksten, verlogenen Menschen um sie herum weit überlegen.
An der Seite der Bühne steht ein langer Tisch, an dem die Schauspieler*innen vor und nach ihren Auftritten sitzen. Dort halbieren sie mit einem Messer Pfirsiche und Orangen, und eine Diaprojektion zeigt ihre Finger, die das Innere der Fruchthälften streicheln und kneten, wozu schmatzende Geräusche eingeblendet werden als Dokumentation der Selbstbefriedigung, von der häufig die Rede ist.
Ein gewisses Kitschpotential ist diesem Stück nicht abzusprechen, und die Geschichte ist im Grunde banal, aber so gut verpackt , so verzerrt und auf den Kopf gestellt, mit verrückten Ideen und Gags angereichert, dass sie ganz neu und zukunftsweisend erscheint.
„Was kommt nach dem Protest?“ war das Motto des diesjährigen Stückemarkts. Sowohl Manuela Infante als auch Gracie Gardner haben auf diese Frage intelligent und begeisternd geantwortet.