Berlin, Deutschland (Weltexpress). Er kippt den Stuhl kurz nach hinten und stößt sofort gegen eine Wand. Der Raum, fensterlos, ist kaum größer als ein Zwinger, der Mann darin grimmiger als jeder Kampfhund: Richard Bruce „Dick“ Cheney (Christian Bale) in seinem Büro, das gerade Platz für einen Schreibtisch mit Stuhl bietet. Selbst manche Gefängniszelle wirkt dagegen wie purer Luxus. Sehr karg fällt es aus, das Sprungbrett für eine bislang beispiellose Karriere. Vom Handlanger in der Nixon-Administration bis zum wohl einflussreichsten Vize-Präsidenten in der Geschichte der USA.
Nur eine von vielen wunderbaren Szenen in „Vice“. Der herrlich sarkastische Film von Adam McKay dürfte zu den herausragenden Beiträgen auf der diesjährigen Berlinale zählen. Politik und Politiker filmisch ansprechend zu verpacken, ist nicht ganz einfach, droht doch nicht selten die Gefahr eines drögen Kammerspiels. „Vice“ ist das genaue Gegenteil, nämlich ganz großes Kino. Ein mehr als nur relevantes Thema, schließlich wirken die (Un-)Taten der umstrittenen Bush-Administration bis heute fort, wurde mit großartigen Schauspielern, grandiosen Bildern und einem hervorragendem Drehbuch gekonnt umgesetzt. Unterhaltsam und lehrreich zugleich. Ganz nebenbei erfährt man, wie die Republikaner im Laufe der Jahrzehnte ihren Einfluss immer weiter ausbauten. Mit stockkonservativen Denkfabriken wie dem Cato-Institute, mit Propaganda-Medien wie dem Murdoch-Sender Fox-News.
Cheney. Sofort hat man ein Bild vor seinem geistigen Auge: Der eklige Bürokrat mit Brille, Halbglatze, dickem Bauch und berechnendem Blick. Schön, dass der Film auch die frühen Jahre des umstrittenen Spitzenpolitikers zeigen. Der junge Cheney säuft, rauft und schlägt sich so durch. Das Stipendium für das College ging verloren, nun darf er im heimatlichen Wyoming auf Strommasten klettern. Seine Frau Lynne (Amy Adams) macht ihm Dampf, ihr Ehemann wagt einen Neustart in der Politik. Schnell merkt er, worauf es in Washington ankommt. Klappe halten, zuhören und genau beobachten. Und zum richtigen Zeitpunkt handeln. Wie ein Krokodil, das scheinbar regungslos auf der Lauer liegt und dann zuschnappt. Der wortkarge, eher unscheinbare Mann kann Menschen sehr schnell einschätzen, das hilft ihm bei seinem rasanten Aufstieg. So durchschaut er George W. Bush schnell als unerfahrenen, schlichten Tölpel. Und sichert sich für den Fall eines Wahlsiegs den Einfluss auf Bereiche wie Außenpolitik oder Energie. Alles unbedeutend, versichert er gegenüber dem künftigen Boss. Der nickt und kaut weiter an seinem Hähnchenbein.
Bevor er Vizepräsident wurde, war er Vorstand bei Halliburton, einem Zulieferer für die Öl-Industrie, als er dort ausschied, folgte ein mehr als goldener Handschlag. Nach dem Irak-Krieg konnte das Unternehmen dort sehr aktiv werden, ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das prallt an Cheney ab, ebenso wie die Lügen über Saddams angebliche Vernichtungswaffen, mit denen die Bush-Administration den Irak-Krieg rechtfertigte. Er ist da wie Teflon, selbst der Sensenmann zieht bei ihm den Kürzeren, immer wieder. Der übergewichtige Mann erlitt mehrere Herzinfarkte und lebt nun mit einem Spenderorgan. Im Film erlebt man ein Stehaufmännchen, das zu Boden geht, das im Krankenhaus mit dem Tode ringt und selbigem immer wieder von der Schippe springt.
Bei aller Kritik, immer geht der Film fair mit der Figur um, zeigt kein eiskaltes Monster, sondern einen Mann mit mehreren Facetten. So steckt in dem unsympathischen Opportunisten und Karrieristen immer auch ein liebevoller Familienvater. Als eine Tochter sich als lesbisch outet, hält er zu ihr. Er lässt nichts auf sie kommen, privat wie auch beruflich.
Bush selber erscheint in dem Film nur als Randfigur, doch das reicht schon aus. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Und im Nu stellt sich eine Frage. Was wäre passiert, wenn Cheney keinen so großen Einfluss auf George W. Bush gehabt hätte? Wer weiß, auf wen der Ex-Alkoholiker und wiedergeborene Christ dann gehört hätte. Auf andere, noch fragwürdigere Berater? Oder, noch ärger, gar auf sich selbst? So schlimm es auch war, es hätte schlimmer kommen können.
Filmografische Angaben
Originaltitel: Vice
Deutscher Titel: Vice – Der zweite Mann
Staat: VSA
Jahr: 2018
Originalsprache: Englisch
Regie: Adam McKay
Drehbuch: Adam McKay
Kamera: Greig Fraser
Schnitt: Hank Corwin
Musik: Nicholas Britell
Darsteller: Christian Bale (Dick Cheney), Amy Adams (Lynne Cheney), Steve Carell (Donald Rumsfeld), Sam Rockwell (Präsident George W. Bush), Tyler Perry (Colin Powell), Alison Pill (Mary Cheney), Jesse Plemons (Erzähler), Shea Whigham (Wayne Vincent), Bill Pullman (Nelson Rockefeller), LisaGay Hamilton (Condoleezza Rice), Lily Rabe (Liz Cheney), Justin Kirk (Lewis Libby), Bill Camp (Präsident Gerald Ford), Cailee Spaeny (Lynne als junge Frau), Stefania LaVie Owen (Joan/Erzählerin)
Produzenten: Brad Pitt, Dede Gardner, Jeremy Kleiner, Megan Ellison, Kevin J. Messick, Will Ferrell, Adam McKay
Länge: 132 Minuten