Generalthema seines Buches ist die Frage, womit die “afrikanische Ausnahme von der Regel kapitalistischer Entwicklung” zu erklären ist. Wenngleich seine Annahme, “dass die von den kapitalistischen Zentren dominierten Strukturen des Weltmarktes in anderen Teilen der Peripherie eine eigenständige Entwicklung nicht ausschließen” möglicherweise etwas voreilig ist und darüber zu diskutieren wäre, was hier Regel und was Ausnahme ist, ist Goldberg zweifellos zuzustimmen, wenn er betont, dass die “afrikanische Ausnahme” folglich nicht alleine mit der strukturellen Ungleichheit der internationalen Wirtschaftsbeziehungen erklärt werden könne.
Diese “afrikanische Ausnahme” des in vielfacher Hinsicht besonders niedrigen Entwicklungsniveaus ist nicht zu leugnen.
Der Autor führt zum einen die besonders ungünstigen naturräumlichen Bedingungen des Kontinents (Klima, Bodenbeschaffung, Bevölkerungsdichte etc.) als langfristig wirkende Gründe für die gehemmte Entwicklung an, der Entwicklung nicht zuletzt auch der sozialen und politischen Strukturen. Über diese sagt Goldberg: “Nach 80 Jahren Kolonialismus und fast vier Dekaden Unabhängigkeit gibt es zwar Kapital in Afrika, aber keinen Kapitalismus. Die vorherrschenden sozialen Beziehungen sind wie die Produktionslogiken noch immer nicht-kapitalistisch. Afrika südlich der Sahara existiert in einer kapitalistischen Welt, die die Lebenslage ihrer Bewohner bestimmt, aber es gehört nicht zu ihr”. Wenn man bedenkt, dass der Autor zuvor ebenso zustimmend John Lonsdale zitierte, demzufolge der bedeutendste Beitrag Afrikas zur Geschichte der Menschheit die Kunst gewesen sei, ohne einen Staat friedlich zusammenzuleben, gibt es durchaus Grund, sein Verständnis von Staat und von Kapitalismus zu hinterfragen. Es bedürfte wohl in der Tat einer ungewöhnlichen Definition von “Staat”, um zu leugnen, dass auch das präkoloniale Afrika von dieser politischer Organisationsform eine Vielzahl aufwies, im Sahelgürtel ebenso wie an der Westafrikanischen Küste, im Kongo, im ostafrikanischen Zwischenseegebiet oder in Südafrika, Staaten, deren Grenzen und Zentren allerdings fast ausnahmslos nicht identisch mit den kolonialen und nachkolonialen Gebilden waren. Aber auch wenn die theoretische Einordnung fragwürdig ist, legt der Autor doch ausreichend Fakten vor, die die relative Besonderheit der afrikanischen Entwicklung illustrieren.
Goldbergs Buch ist in vier Hauptkapitel gegliedert. Nach der, wie wir gesehen haben, positiv beantworteten Frage, ob Afrika ein Sonderfall der Entwicklung sei, geht es im zweiten Kapitel (S.17-69) um Afrikas Stellung im Kapitalismus. Er weist auf die Rolle Afrikas im Weltmarkt hin, der für der Kontinent so wichtig und für den Afrika mit Ausnahme einiger seiner Rohstoffe so unwichtig ist, und zusammen mit der Auslandsverschuldung und sogenannten “Entwicklungsfinanzierung auf das Problem der Humankapitalflucht (“brain drain”).
Goldberg zeigt auf, wie die Entwicklungsländer finanziell definitiv in die Krise gerieten, als die Industrieländer, die USA an ihrer Spitze, zwecks Inflationsbekämpfung vor rund 20 Jahren eine Periode der Hochzinspolitik einleiteten und dass die Auswirkung der Schuldenlast für Afrika größer war als für den Rest der Peripherie. Erst nachdem offensichtlich wurde, dass die hoch verschuldeten armen Länder (HIPC) trotz und auch wegen der ihnen von IWF und Weltbank aufoktroyierten “Strukturanpassungsprogramme” ihre Schulden ohnehin nichtwürden zurückzahlen können, erhöhte sich die offizielle Entwicklungshilfe (ODA) deutlich.
Dieser Hinweis auf die Strukturanpassungsprogramme der imperialistischen Finanzinstitutionen ist gerade jetzt in einem anderen Zusammenhang wichtig, dem er sich im 3. Kapitel (S.75-148) ausführlich widmet. Allenthalben wird es Mode, dass Repräsentanten der imperialistischen Mächte in Afrika “good governance” anmahnen. Nicht, dass ein “good governance” in Afrika in Wirklichkeit nennenswert verbreitet wäre. Aber gerade auch die Stukturanpassungspolitik hat wie der Autor ausführlich darlegt den staatlichen Institutionen die Möglichkeit, überhaupt wirksam zu werden (es sei denn im Bereich der Repression) beschnitten. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass für die Lösung praktisch aller Probleme des täglichen Überlebenskampfes auf prästaatliche Sozialbindungen zurückgegriffen wird. “Tribalismus”, jede Art des Klientelwesens und auf dieser Basis umfassende Korruption sind hier die Stichworte.
Ein Staat, der nicht über die Werkzeuge verfügt, das Leben seiner Bürger zu verbessern, kann auch von ihnen nicht ernstgenommen und gestützt werden. Allerdings hängt die Antwort auf diese Lage auch mit den gegeben Voraussetzungen zusammen, so dem weitgehenden Fehlen moderner Klassenbildung. In einem Kontinent, in dem es über die Maßen freies Land gibt, ist etwa die Lohnarbeit in der Landwirtschaft ebenso schwer durchzusetzen wie eine Produktivitätssteigerung durch die Kleinbauern. Was die Rolle des ethnische Zusammengehörigkeitgefühls, auch “Tribalismus” genannt, etwa für die zahlreichen bewaffneten Konflikte in Afrika betrifft, so weist Goldberg überzeugend darauf hin, dass dieser “Tribalismus” zwar von den Beteiligten mobilisiert wird, aber praktisch nie der wirkliche Grund für die Auseinandersetzungen ist. Dieser ist letztlich im Kampf um die mageren wirtschaftlichen (landwirtschaftlichen) Ressourcen zu verorten oder wird durch die die Existenz nicht so magerer Ressourcen (Erdöl, Metalle udgl.) verlängert, im letztgenannten Fall durchaus auch durch interessierte Transnationale Konzerne.
Goldberg fasst zusammen: “Ein schwacher Staat, ethnische und/oder regionale Konfliktlagen und eine lokale und regionale Geschichte gewaltsamer Auseinandersetzungen (Kolonialzeit, Apartheid) bilden den Hintergrund.”
Das letzte Kapitel setzt sich theoretisch vertieft mit dem Charakter der “afrikanischen Produktionsweise” auseinander. Der Autor rekurriert hier auch auf die marxistische Diskussion über die sogenannte “asiatische Produktionsweise” als die der ersten Klassengesellschaften überhaupt. Gerade weil in Afrika die für diese Produktionsweise typische ökonomische Funktion des Staates als Organisator von die Gemeinschaft interessierenden großen Arbeiten wie Bewässerungsanlagen fehlt,greift Goldberg Coquerie-Vidrovitch’s Terminus der “afrikanischen Produktionsweise” auf. Diese sei gekennzeichnet durch kaum Mehrprodukt erzeugende lokale Gemeinschaften einerseits und Imperien, die auf militärisch organisiertem Raub und der Kontrolle des Fernhandels basierten und nur in Ausnahmefällen auf der Abschöpfung des agrarischen Mehrprodukts.
Auch die nachkolonialen Staaten basieren ökonomisch nicht in erster Linie auf der Abschöpfung des mageren Mehrproduktes der bäuerlichen Bevölkerung, sondern auf Einnahmen aus dem Export von Cash crops und/oder Rohstoffen wie Erdöl. Allerdings sind auch die Ansätze kommerzieller Landwirtschaft stecken geblieben, vorallem deshalb, weil bei einer systematischen (nicht saisonalen) Anwendung von Lohnarbeit die Löhne zu hoch wären.
Versuche nachkolonialer Regierungen zur Industrialisierung ihrer Länder waren nach Meinung Goldbergs trotz aller Probleme wie mangelnde Kapazität und Kompetenz staatlicher Strukturen keineswegs von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aber “unabhängig von der Frage, obdie kameruner (und andere afrikanischen) Eliten in der Lage gewesen wären, nach Zahlung des Lehrgelds aus den Fehlern zu lernen und diese zu korrigieren: Dazu war keine Zeit mehr. Der Rohstoffboom kam vor Ende der 70er Jahre zu einem abrupten Ende. Die kapitalistische Weltwirtschaftskrise beendete die afrikanischen Modernisierungsexperimente durch sinkende Rohstoffeinnahmen und steigende Zinsen. Der Versuch der Regierungen – darunter derjenigen Kameruns -, die finanzielle `Durststrecke’ durch kurzfristige Kredite zu überbrücken, führte in die Schuldenkrise und damit die Abhängigkeit von den Internationalen Finanzinstitutionen.” (S. 171). Bis heute haben die `terms of trade’ zwischen Afrikas Exporten und Importen aus den Industrieländern nicht einmal das Niveau der 60er Jahre erreicht.
Angesichts der traditionellen Unterentwicklung ist die Spaltung in die modernen Hauptklassen, Bourgeoisie und Arbeiterklasse, in Afrika ungenügend ausgeprägt. Dem Staat kommt damit für die Entwicklung eine überragende Rolle zu. Aber der Staat wird – durchaus nicht zu Unrecht – als “gewalttätiges fremdes Monster” betrachtet, und – das ist laut Goldberg ein Spezifikum afrikanischer Verhältnisse im Vergleich zu denen in anderen Teilen der Peripherie – man kann ihm aus dem Weg gehen (S.204). Die oben erwähnte Schwächung des Staates in Hinblick auf seine potentiellen nicht-monsterhaften Funktionen durch imperialistische Eingriffe wie die berüchtigten Strukturanpassungsprogramme verschärft das Problem.
Goldberg behandelt zwei Fälle angeblich erfolgreicher Entwicklung – Botswana und Südafrika – etwas ausführlicher und zeigt,d ass hier einmalige Voraussetzungen herrschen und die Erfolge gleichwohl sehr begrenzt sind.
Da er – leider wohl zutreffend – eine sozialistische Entwicklung auf absehrbare Zeit nicht für realistisch hält, aber offenbar den Leser auch nicht völlig entmutigt zurücklassen möchte, widmet er sich relativ ausführlich allen möglichen Diskussionen, die in – bürgerlichen – entwicklungspolitischen Kreisen geführt werden. Die reale – negative – Entwicklung ist aber m.E. durch die Kombination spezifisch afrikanischer Voraussetzungen und der Gesetzmäßigkeiten des imperialistischen Kapitalismus festgeschrieben. Die notwendigen Fakten für diese Überzeugung liefert der Autor in seinem unbedingt empfehlenswerten Buch selbst.
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Jörg Goldberg: Überleben im Goldland – Afrika im globalen Kapitalismus. (PapyRossa), Köln 2008, 249 S., Euro 16,90