Berlin, Deutschland (Weltexpress). Afrika mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern besitzt riesige Ressourcen an Bodenschätzen, Naturreichtümern und Arbeitskräften, doch die Lage der Volksmassen ist gekennzeichnet durch Ausbeutung, Massenarbeitslosigkeit, Armut, Hungersnöte, Epidemien und Flüchtlingsströme. Für viele ist die Lage hoffnungslos und sie suchen einen Ausweg in der Flucht nach Europa, in der Hoffnung auf Arbeit und Überleben. Gewerkschaften und Bürgerrechtler organisieren Widerstand und Arbeitskämpfe, die oft blutig niedergeschlagen werden.
Zugleich suchen Schichten gebildeter und qualifizierter junger Leute mit Energie und Erfindergeist einen Ausweg aus Armut und Perspektivlosigkeit, indem sie tüfteln und experimentieren, technische Lösungen entwickeln, Firmen gründen und lokale Probleme in der Kommunikation, bei der Stromversorgung, bei der ärztlichen Versorgung oder beim Ersatzteilangebot angehen. Sie bringen zum Teil hochqualifizierte Erfindungen hervor wie Verkehrsroboter, 3D-Drucker, Drohnen und medizinische Geräte.
In der Dokumentation »Digital Africa. Ein Kontinent erfindet sich neu» ziehen die Regisseurinnen Elke Sasse und Bettina Haasen sowie die Kuratorin Geraldine de Bastion zu einer Entdeckungsreise in die Innovationsszene des afrikanischen Kontinents aus, behandelt am Beispiel der Länder Kenia, Ruanda und Ghana. Markante Beispiele sind die Aufarbeitung von Elektroschrott, die handwerkliche Herstellung von 3D-Druckern, die zum Beispiel Ersatzteile für Krankenhäuser und Hebammen herstellen, Geräte zur Geburtenüberwachung, Tablets für Schulen, Programme für Stadtplanung und Ernteüberwachung. Mit dem kenianischen System »Ushahidi» werden »kartographierte Zeugenaussagen» gesammelt, das heißt Meldungen aus der Bevölkerung für politische Meinungsbilder oder über Unregelmäßigkeiten bei Wahlen. Möglicher Missbrauch durch Polizei und Geheimdienste wird nicht in Betracht gezogen.
Viele Erfindungen erweisen sich als Notlösung für Versorgungsprobleme, zum Beispiel solarbetriebene mobile Ladestationen mit Internetanschluss, die auf Dörfern eingesetzt werden, wo tagelang der Strom ausfällt und die Leute ihr Mobiltelefon nicht aufladen können. Jede der 30 mobilen Ladestationen in Kigali sichert einen Arbeitsplatz.
Stolz berichtet de Bastion von einem mobilen Bezahlsystem in Kenia, mit dem die Gasentnahme aus geleasten Gasflaschen genau gemessen, geöffnet, gestoppt oder nachgezahlt werden kann. Auf dem Lande könne man alles bargeldlos bezahlen, von der Wasserflasche bis zur Stromrechnung. Offen bleibt, ob die Menschen überhaupt Geld auf dem Konto haben und woher sie es bekommen. Eine Möglichkeit wäre die Überweisung des Geldes von Familienangehörigen, die im Ausland arbeiten. Erinnert sei an eine Doku von ARTE über die profitablen Geschäfte von Finanzdienstleistern wie Western Union (Money in Minutes, 26.1.2016), was die soziale Seite der »digitalen Revolution» flüchtig beleuchten könnte. Überhaupt bleibt die Finanzierung der Projekte im Film unterbelichtet.
Als Hightech-Musterbeispiel wird die Schaffung einer digitalen Patientenakte in einem Krankenhaus in Ghana vorgestellt. Die Methode ist übertragbar.
Vorgestellt werden im Film kluge, hochqualifizierte, rastlose junge Männer und Frauen – Erfinder und Firmengründer, Persönlichkeiten, die hohe Achtung verdienen. Sie wollen nicht warten, bis die Regierungen handeln. Woher sie kommen, wo sie ausgebildet wurden, wer ihre Ausbildung bezahlt hat, bleibt unerwähnt. Sozial gesehen kann hier eine Mittelschicht entstehen, doch ist die Zahl der Gründungen in den riesigen Ländern minimal. Keinen Gedanken verwenden die Autoren darauf, in welcher Relation die in den Projekten beschäftigten Arbeitskräfte zur Masse der Arbeitsuchenden im Lande stehen. Wirtschaftswachstum, Wirtschaftspolitik, Wissenschaftspolitik, Konkurrenz und Einfluss ausländischer Monopole spielen keine Rolle. In Ruanda beklagt ein Erfinder, 90 Prozent der Fördermittel flössen an Nichtregierungsorganisationen. In privaten Unternehmen wären sie besser angelegt.
Zur Innovationsszene, die das Filmteam auf dem Kontinent erkunden will, gehören in der Realität auch die Potenziale staatlicher Institute, der Universitäten, der internationalen Konzerne und Stiftungen. Diese werden jedoch nicht untersucht. Welche Wachstumspotenziale ergeben sich einerseits dort und andererseits bei den Protagonisten des Films? Wie ordnen sich private Initiativen in die Wirtschaftsleistung ein? Die Gründer brauchen Kapital. Sie suchen Investoren. Welche Abhängigkeiten entstehen daraus, welche Konflikte? Die hoffnungsvolle Mitgliederfirma »iHub» in Kenia wurde 2017 an einen Kapitalfonds verkauft. Welche Konsequenzen hat das? Regierungsvertreter werden in keinem Falle nach Planung, Förderung und Finanzierung sowohl der technischen Entwicklung des Landes als auch der Innovationsszene befragt. Ihre Aussagen könnten mit den Erfahrungen und Meinungen der Erfinder gespiegelt werden. Das bleibt aus. Der Film weckt Illusionen und blendet die Probleme aus, deren Opfer täglich in Europa ankommen und unwürdig behandelt werden. Die Autoren erliegen der Digitalisierungspropaganda der Großen Koalition hierzulande, als könnte die Digitalisierung die Klassenunterschiede aufheben und die sozialen Konflikte aus der Welt schaffen.
Große Aufmerksamkeit widmet die Kamera (Evrard Niyomwungere) der Fingerfertigkeit und der Garderobe der Reporterin Geraldine de Bastion. Hübsch anzusehen.
Doch im Ernst: Wie könnte Afrika sich denn »neu erfinden»? Zum Beispiel als freie, sozialistische Republiken, in denen ihre Bodenschätze, Naturreichtümer, Industriepotenziale und Verkehrswege gesellschaftliches Eigentum sind, die Ausbeutung beseitigt ist und Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Energieversorgung und – allgemein – die Infrastruktur zum Wohle des Volkes entwickelt werden.
Digital Africa. Ein Kontinent erfindet sich neu, Dokumentation von Elke Sasse und Bettina Haasen, ARTE / ZDF, Deutschland 2018, 52 min, Erstausstrahlung Dienstag, 31. Juli 2018, um 22.40 Uhr auf ARTE