Hamburg, Deutschland (Weltexpress). Kaum ein anderes Ereignis hatte während des Vietnam-Krieges die Weltöffentlichkeit so bewegt wie das Massaker in My Lai. Am 16. März 1968 stürmten US-Soldaten das kleine Dorf auf der Suche nach Angehörigen der nordvietnamesischen Armee. Der Armeefotograf Ronald L Haeberle begleitete die Soldaten und hielt fest, wie die GIs Kinder, Frauen und Männer töten, Brunnen vergiften, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand steckten. Dass Bilder vom Kriegsverbrechen überliefert sind, ist dem Gewissen und der Cleverness des Fotografen zu verdanken. Michael Marek hat den heute 77-jährigen Ronald L Haeberle Zuhause besucht.
North Ridgeville, 30 Kilometer südwestlich von Cleveland im US-Bundesstaat, Ohio: Ein schmuckloser Vorort der einstigen Stahlmetropole. Weiß gestrichene Einfamilienhäuser, Doppelgaragen, gepflegte Vorgärten, US-amerikanischer Mittelstand. Hier lebt Ronald Haeberle. Das Massaker von My Lai ist vor allem wegen seiner Bilder in Erinnerung geblieben: brennende Hütten, Menschen mit aufgeschlitzten Leibern, entstellte Leichen, die zwischen Reisfeldern liegen. Haeberle ist damals 27 Jahre alt und arbeitet als Armeefotograph. Heute ist er Rentner und lebt in seinem Bungalow. An den 16. März 1968 kann er sich noch immer gut erinnern: „Nachdem wir mit unseren Hubschraubern gelandet waren, begannen unsere Leute auf alles zu feuern. Ich sah, wie einer alten Frau in den Kopf geschossen wurde. Ihr Gehirn spritzte überall hin. Auf den Wegen lagen überall Leichen.“
50 Jahre später erzählt Haeberle mit ruhiger Stimme von den Geschehnissen. Haeberle ist ein rationaler Mensch, keine Gefühlsausbrüche, wenn er über das Morden von damals spricht. Bis heute hat er keine Albträume, sagt Haeberle. Posttraumatische Belastungsstörungen? Fehlanzeige! Wenn seine Stimme abrupt abbricht und neu ansetzt, dann scheint innere Unruhe sich nach außen zu wenden. Haeberle spricht ein wenig hektisch und mit wenigen Gesten, zuvorkommend und freundlich, im grauen T-Shirt (I love Laos), verwaschener Bluejeans und mit schütterem Haar. Großgewachsen ist er, mit wachem Blick und Designerbrille. Die Urgroßeltern kamen aus der Schwarzwaldgegend und wanderten im 19. Jahrhundert in die USA aus, um dort ihr Glück zu finden. Haeberle selbst spricht kein Deutsch, aber der schwäbisch klingende Name ist ihm geblieben.
Dass er Armeefotograf wird, ist Zufall. „Als ich 1962 eingezogen wurde, kam ich nach Hawaii. Ich hatte meine Kamera dabei und machte Fotos vom Training der Soldaten“, so Haeberle, „mein Vorgesetzter fand das gut. Und so ich wurde Fotojournalist in der Army.“ Nach Vietnam wird er nicht abkommandiert. „Ich wollte selber dorthin. Es interessierte mich, ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort los ist.“ Als er 1968 nach My Lai zum Einsatz mitfliegt, heißt es, der Ort sei „heiß“, der Vietcong würde sich dort verstecken. „Doch das stimmte nicht. Wir wurden weder angegriffen oder beschossen noch wurden in dem Dorf Waffen und Mitglieder des Vietcong gefunden.“
Mit einer Farb- und einer Schwarzweißkamera hält der junge Armeefotograf fest, wie die Mitglieder der „Charlie Company“ unschuldige Frauen, Kinder und Männer ermorden, Tiere abschlachten, Brunnen vergiften, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand stecken. „Es war alles total irreal, sogar Babies wurden massakriert. Es war kaltblütiger Mord“, das war mir sofort klar, sagt Haeberle. Seine Bilder zeigen die Mörder nicht beim Töten selbst, sondern so, als würden sie dem normalen Kriegshandwerk nachgehen. „Andernfalls hätten mich die eigenen Leute erschossen!“
Zurück im Basiscamp der US-Armee muss Haeberle seine Leica Schwarzweißkamera abgeben. Seine Nikon Farbkamera versteckt er und behält sie für sich. „Meine Vorgesetzten haben nicht nach der zweiten Kamera gefragt.“ Von dem Kriegsverbrechen erzählt Haeberle zunächst niemanden, alles andere wäre lebensgefährlich gewesen. Man hätte ihn in der Armee als Nestbeschmutzer beschimpft. „Und was wäre mit meinen Kollegen passiert, die als Reporter und Fotografen beim nächsten Einsatz raus mussten? Ihr Leben wäre nichts mehr Wert gewesen, verstehen Sie? Vermutlich hätte man sie hinterrücks erschossen.“ Haeberle hält inne, und dann ergänzt er: „Und auch wir als Fotografen waren ja schuldig geworden“.
Kurz nach dem Massaker endet im April 1968 seine Dienstzeit, Haeberle wird „ehrenhaft“ aus der US-Armee entlassen – vermutlich nur deshalb, weil seine Fotos noch nicht veröffentlicht sind. Danach beendet er sein Studium und arbeitet einige Jahre als Portraitfotograf in Cleveland. Kriegsfotograf wollte er nach My Lai nie werden, sagt Haeberle. Mit seiner Vorgeschichte wäre er immer als Denunziant abgestempelt worden. Aber eine innere Stimme sagt ihm, er müsse über mit seinen Bildern über das Massaker berichten. In seiner Heimatstadt stellt Haeberle eine Diashow zusammen, die er auf öffentlichen Veranstaltungen zeigt, unter anderem dem Kiwanis und dem Rotarier Club. „Ich wollte wissen, wie die Leute darauf reagieren.“ In die Mitte der Diaserie mit Aufnahmen aus seiner Dienstzeit platziert er die Aufnahmen des Massakers von My Lai. Ungläubiges Staunen im Publikum, erinnert sich Haeberle, „die Leute konnten sich nicht vorstellen, dass US-Soldaten solche Verbrechen begangen haben.“ Eine Frau meint sogar, er habe sich „eine Seifenoper für Hollywood ausgedacht“.
Zunächst gelingt es dem US-Militär, die Ermordung der Dorfbewohner zu vertuschen. Bis im November 1969 Haeberles Fotos in verschiedenen US-Medien erscheinen, zuerst im Cleveland „Plain Dealer“ und dann im renommierten „Life Magazine“. Dafür erhält Haeberle im selben Jahr den „Dead Line Award“ der New Yorker Journalistenvereinigung. Geehrt fühle er sich bis heute nicht, so Haeberle, „und es macht mich auch nicht stolz, über das Massaker berichtet zu haben. Aber mit meinen Bildern konnte das Kriegsverbrechen bewiesen werden.“ Als einen Robin Hood sieht er sich nicht, „aber mit meinen Bildern wollte ich den Leuten zeigen, dass wir Amerikaner nicht einfach nur die Guten waren.“
Die Vereinigten Staaten sind schockiert: Die eigenen Soldaten, Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie gegen den Kommunismus, entlarvt als eine Bande von Massenmördern. Die US-Armee setzt den Drei-Sterne-General William Peers als Sonderermittler ein. In seinem Abschlußbericht beschreibt Peers auf mehr als 20.000 Seiten das Bild einer maroden Militärführung. Und er belegt, dass die Geschehnisse in My Lai nicht die Ausnahme sondern die Regel während des Vietnamkrieges waren.
In seinem Haus hängen Miró Drucke, auf dem Kaminsims steht ein blaues Gefäß (Ashes for old lovers) und der „Dead Line Award“, eine hässliche Plastik aus Bronze. Haeberles große Leidenschaft sind Fahrräder. Er sammelt Bikes. Sein ganzer Stolz ist die neueste „Rennmaschine“ aus Kohlefaser. Haeberle ist mittlerweile 77 und, auch wenn es seine Figur nicht erahnen lässt, noch immer sportlich. Mehrmals ist er nach Vietnam als Tourist zurückgehrt. Auch in My Lai war er („das war eine innere Verpflichtung“), die Gedenkstätte hat er ebenfalls besucht: „Das war für mich eine Ehrerbietung an die Opfer.“
Nur vor einigen Jahren war er den Tränen nahe, erinnert sich Haeberle, als er einen Überlebenden von My Lai traf – Tran Van Duc, dessen Mutter er damals vor 50 Jahren fotografiert hatte. Auf Haeberles Fotos sind die schweren Verletzungen der Mutter zu sehen. Sie liegt im Gras, halb bedeckt von einem großen Strohhut, der Kopf fürchterlich entstellt. In den Medien wird dieses Bild nur selten gezeigt – es ist zu grausam, zu schockierend. Der Sohn nimmt seine Schwester auf den Arm und versucht zu fliehen. Aus Angst vor den Soldaten legt er sich mit ihr auf einen Feldweg und stellt sich tot. Haeberle fotografiert die beiden.
Der 6-jährige Junge von damals lebt mittlerweile in Deutschland. Tran Van Duc, 56, und der Fotograph von My Lai sind Freunde geworden. Haeberle ist innerlich bewegt: „Ich habe Duc die Kamera gezeigt, mit der ich die Bilder von ihm und seiner Mutter aufgenommen habe. Die Kamera und die Bilder sind ein starkes Band zwischen uns!“ Heute befindet sich Haeberles Schwarzweißkamera von 1968 Zuhause bei Tran Van Duc in Remscheid. Sie steht auf einem kleinen Altar vor dem Bild seiner ermordeten Mutter. Haeberle hat ihm die Kamera vor einigen Jahren geschenkt. Zum 50. Jubiläum des Massakers treffen sich die beiden mit ihren Familien in My Lai.
Bis heute haben die USA keine Entschädigung an die überlebenden Opfer gezahlt. Haeberle hält von solchen Wiedergutmachungsleistung überhaupt nichts. „Und wissen Sie warum? Das Geld würde diejenigen, die es bräuchten, nie erreichen. Die US-Regierung sollte vielmehr alles dafür tun, damit Vietnam von den Resten des hochgiftigen Entlaubungsmittel Agent Orange gereinigt wird. Im ganzen Land steckt das gefährliche Zeug noch im Boden und vergiftet alles. Das würde den Menschen wirklich helfen!“
Der Fotograph
Ronald L Haeberle, 1941 in Cleveland (Ohio) geboren, lebt in der Nähe seiner Geburtsstadt. Seine Ur-Großeltern wanderten aus dem Schwarzwald in die USA aus. Haeberle spricht selbst kein Deutsch. In der ehemaligen Stahlmetropole Cleveland studierte er Fotographie, Psychologie und Geschichte, bevor er 1962 in die US-Armee eingezogen wurde. Dort arbeitete er als Fotograph. Kurz vor seiner Entlassung begleitete er während des Vietnamkrieges am 16. März 1968 eine Einheit nach My Lai. Seit 2006 ist er Rentner. Ronald Haeberle ist geschieden und hat eine Tochter.
Die Täter: William Calley
Am 31. März 1971 verurteilten sechs US-Militärschöffen den verantwortlichen Offizier William Calley zu lebenslanger Haft. In der Begründung wurde von vorsätzlichem Mord in 22 Fällen gesprochen. In einer Umfrage des Magazins „Newsweek“ sprachen sich nur 11 Prozent der befragten US-Bürger für Calleys Verurteilung aus. Calley blieb der einzige seiner Einheit, der für das Massaker verurteilt wurde. Keiner der ranghohen Militärs wurde je zur Verantwortung gezogen. Nach kurzer Haft begnadigte US-Präsident Richard Nixon den Offizier.
Der Retter: Hugh Thompson
Nur einer wagte den Bedrängten zu helfen: Der US-Hubschrauberpilot Hugh Thompson ließ 13 Vietnamesen ausfliegen. Seine beiden Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn hielten die mordbereiten Kameraden in Schach. Alle drei bekamen 1998 posthum die Soldier’s Medal der US-Army verliehen – als Auszeichnung für ihre lebensrettende Tapferkeit. 2006 starb Thompson an Krebs.
Der Schnüffler: Seymour Hersh
Dem US-Militär gelang es 18 Monate, das Verbrechen zu verheimlichen. Es war der US-Journalist Seymour Hersh, der das Verbrechen und seine Hintergründe aufdeckte.
Die US-Amerikaner waren schockiert: GIs von den Medien als eine Bande von Massenmördern entlarvt.
Für seinen Artikel über My Lai erhielt Hersh den renommierten Pulitzer Preis. Heute gilt er als einer der letzten großen investigativen Journalisten der USA.
Die Gedenkstätte
Seit 1976 gibt es in My Lai eine Gedenkstätte, die an das Massaker erinnert. Gleich am Eingang hängt eine schwarze Tafel mit den eingravierten Namen der 504 Ermordeten. Daneben liegen US-amerikanische Beutewaffen und zwei gläserne Behälter, in denen entstellte Föten schwimmen. Der Einsatz des hochgiftigen Entlaubungsmittels Agent Orange durch die US-Air Force hatte zwei Millionen Vietnamesen erkranken lassen. Vor allem vietnamesische Besucher kommen nach My Lai. Die meisten ausländischen Gäste sind US-Amerikaner. Knapp 40.000 Besucher kommen jährlich. Umgerechnet 60 Cent kostet der Eintritt.