Berlin, Deutschland (Weltexpress). Seit dem Beitritt der fünf ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des westdeutschen Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 hantieren westdeutsche «Eliten» mit Vorurteilen gegenüber den Menschen in Ostdeutschland. Neue Nahrung wird diesen Stereotypen seit den Bundestagswahlen zugeführt. Es gibt aber auch Gegenrede.
Leider pflegen auch ehemalige Ostdeutsche die Vorurteile. Einer von ihnen ist Wolf Biermann, Vorzeige-DDR-Oppositioneller in Westdeutschland und 2003 Befürworter des Irakkrieges. Biermann hatte den ostdeutschen AfD-Wählern nach den Bundestagswahlen vorgeworfen, Demokratie und Freiheit nicht zu schätzen. Aber davon soll heute nicht die Rede sein. Hier geht es um einen offenen Brief, den Angelika Barbe als Reaktion auf Biermann an diesen geschrieben hat. Die Zeitschrift „Cicero“ hat den Brief am 6. Oktober 2017 veröffentlicht.
Angelika Barbe schreibt
Frau Barbe war DDR-Bürgerrechtlerin, saß für die SPD von 1990 – 1994 im Deutschen Bundestag, wechselte später zur CDU und arbeitet heute für die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung. Ihr Brief ist wohl ein Muss, wenn man Ostdeutschland besser verstehen will.
Gleich eingangs berichtet sie über die Erfahrungen, die Ostdeutsche machen, wenn sie sich an Behörden wenden. Zur Erinnerung: Den überwiegenden Anteil ostdeutscher Funktionsstellen der höheren Ebene besetzen nach wie vor Westdeutsche. Sie kamen nach 1990 und blieben. Angelika Barbe schreibt: «Von über 500 Briefen, die wir in der Sächsischen Landeszentrale von Bürgern bekamen, klagten sie in mehr als 90 Prozent der Fälle darüber, dass sie weder von Bürgermeistern, Abgeordneten, Landräten noch von anderen Vertretern des Establishments eine Antwort auf ihre Petitionen, Briefe und Anfragen erhielten.» Die nachvollziehbare Folge: «Sie fühlten sich nicht akzeptiert, kamen sich verhöhnt vor und wurden dann noch als Rassisten beschimpft.»
Und Frau Merkel, die ehemalige Ostdeutsche? «Bundeskanzlerin Angela Merkel landet mit dem Hubschrauber […], entschwebt nach einer Stunde und löst damit kein einziges Problem. In einer Wahlarena rät sie einer Putzfrau, sie solle ihr weniges Geld in die Riester-Rente stecken. Das zeigt, dass sie die Lebensumstände der Bürger nicht kennt.»
Und die (westdeutsche) politische Kultur? «Von politischer Kultur hierzulande kann überhaupt keine Rede sein. Ich vermisse den antitotalitären Konsens, ich vermisse die offene Auseinandersetzung über strittige Themen, ich vermisse die Achtung des Andersdenkenden. Eine selbsternannte Kaste elitärer ‹Meinungsmacher› verwendet Begriffe wie Toleranz, deren Bedeutung sie dann ins Gegenteil verkehrt. Wer täglich die Presse verfolgt, erlebt Journalisten, die die Wahrheit verschweigen, wohlwissend, dass die Bevölkerung sich zusätzlich im Internet informiert, sich mit Freunden und Verwandten in Westdeutschland austauscht, sich selbst die Verhältnisse (in Berlin-Neukölln, in Duisburg-Marxloh, in Essen) anschaut.»
So schreibt Frau Barbe: «Ich verstehe die Trauer, die Wut, die Hoffnungslosigkeit, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht vieler meiner ostdeutschen Mitbürger angesichts ihrer politischen, rechtlichen und sozialen Entmündigung, und ich verstehe ihre Wahlentscheidung, die auch meine war. Wenn in einem Staat das Recht auf zweierlei Weise ausgeübt wird, zerfällt die Gesellschaft. Denn Recht muss für alle gleich sein, sonst ist es Unrecht. Die Voraussetzung für Demokratie und Freiheit ist die Herrschaft des Rechts.» Schließlich zitiert sie ein Transparent, das jeden Montag in Dresden hochgehalten wird: «Weil wir die Knechtschaft kennen, ist uns die Freiheit heilig!»
Frank Kupfer spricht
Am 18. Oktober 2017 hat der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich den Rücktritt von seinem Amt und dem Parteivorsitz angekündigt. Die CDU hatte bei den Bundestagswahlen eine schwere Niederlage einstecken müssen und wurde nur noch zweitstärkste Partei hinter der AfD. Am 19. Oktober interviewte der Deutschlandfunk den Fraktionsvorsitzenden der CDU im sächsischen Landtag, Frank Kupfer. Das Interview hat eine Reihe interessanter Passagen. Zum Beispiel sagt der Fraktionsvorsitzende, auf das Wahldesaster seiner Partei in Sachsen angesprochen: «Es gibt sicherlich auch eine sächsische Komponente. Aber der Hauptanteil – da bin ich fest davon überzeugt – liegt an der Politik der Bundesregierung und insbesondere an der Flüchtlingspolitik.» Und dann: «Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung von Ministerpräsident Tillich, dass er jetzt die politische Verantwortung übernimmt. Ich habe genauso die Hoffnung, dass auch in Berlin ein Umdenken passiert.» Und wenig später direkt auf Angela Merkel gemünzt: «Sich immer nur hinzustellen und alles zu verteidigen und zu sagen, ich habe das richtig gemacht, das ist nicht das, was der Wähler von ihr erwartet.»
Gibt es also noch Hoffnung darauf, dass Elemente von politischer Vernunft auch im Mainstream ankommen? Oder will man solche Stimmen auch in den kommenden Jahren weiter abtun?