Gestern gingen in Teheran und anderen iranischen Städten an die 1,5 Millionen Menschen auf die Straßen, um gegen Wahlbetrug zu demonstrieren. Aber war es wirklich Wahlbetrug, oder kann sich die unterlegene Seite nur einfach nicht mit dem Ergebnis abfinden? Während des gesamten Wahltages und der gesamten Auszählung meldeten die iranischen Medien immer das gleiche Verhältnis zwischen den Stimmen für Ahmadinedschad und seinem Herausforderer Mussawi. Da gab es kein Zurückfallen oder Aufholen eines Kandidaten. Ahmadinedschad hatte immer doppelt so viele Stimmen wie der Herausforderer. Und diese Auffälligkeit herrschte nicht nur in zeitlicher sondern auch in räumlicher Hinsicht: Es gab auch keine Unterschiede im Abstimmungsverhalten zwischen Stadt und Land oder zwischen verschiedenen Provinzen. So ein Wahlausgang ist statistisch so wahrscheinlich, wie mit einem Würfel tausend mal hintereinander eine Sechs zu würfeln. Oder mit anderen Worten: Diese Wahlen wurden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefälscht. Inzwischen tauchte anonym aus dem iranischen Innenministerium ein Abstimmungsergebnis auf, welches das wirkliche Abstimmungsverhalten der Iraner wiedergeben soll: Danach hätte der Herausforderer Mussawi mit 57% der Stimmen gewonnen. Der amtierende Präsident komme gerademal auf 28%.
Das Schahregime war dem iranischen Volk vom westlichen Imperialismus mit Bajonetten aufgezwungen worden. Das iranischen Volk, das bereits in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Volksrevolutionen, Demokratie und eine eigenständige Arbeiterbewegung entwickelt hatte, sollte mit dem Pfauenthron eine politische Ordnung des Altertums, aus biblischen Zeiten, aufgepfropft werden. So herrschte denn auch die Dynastie Pachlewi ausschließlich im Sinne ihrer imperialistischen Gönner und einer hauchdünnen Komperadorenbourgeosie, die mit der Verschleuderung des iranischen Öls reich wurden, so wie der Clan Bin Laden mit der Verschleuderung des arabischen Öls. Ganz im Stile des Alten Orient wurde denn auch mit jeglicher Opposition verfahren: Für sie hatte man Folter und Galgen.
1979 fegte eine antiimperialistische Volksrevolution dieses Regime davon. Für große Teile des iranischen Volkes, der mittleren und kleinen Bourgeosie, der ländlichen arbeitenden Bevölkerung und Teilen der Arbeiterklasse bildete der traditionelle schiitische Islam den geistig-ideologischen Kitt, der die verschiedenen Klassen und Schichten gegen das Regime vereinte. Aber kaum hatte die schiitische Geistlichkeit den Machtkampf in der Revolution für sich entschieden, als sie auch schon daranging, linke Organisationen und Organisationen der Arbeiterbewegung wieder in die Illegalität zu treiben. Schon bald erwies sich das Regime der Ajatollas und Mullahs als eine bestimmte Form der Herrschaft einer ideologisch rückständigen Bourgeosie.
Aber was ist nun geschehen? Nun ist dem Ahmadinedschad sein bester Freund abhanden gekommen, der George W. Bush. Sie wenden ein, die waren doch Feinde? Aber sicher waren sie Feinde, aber was für herrliche gegenseitige Feindbilder gaben sie sich doch gegenseitig her! Und wo aufgrund hemmungsloser ausbeuterischer neoliberalerer Politik sich die soziale Kluft immer weiter öffnet, bedarf man umso mehr des äußeren Feindes, um das Volk zusammenzuhalten. Und war der George W. Bush mit seiner brutalen Aggression gegen den benachbarten Irak nicht einfach der Imperialist, wie er im Buche steht? Und verkörperte der irre Ahmadinedschad, der Schwarzbärtige, der an Atomwaffen bastelt, den Holocaust leugnet und Israel bedroht, nicht einfach alles wovor sich ein guter Amerikaner fürchtet und was er verabscheut? Nein wirklich, die beiden Präsidenten waren wie füreinander geschaffen. Und sie stehen sich ja auch so nahe in ihrem etwas gestörten Verhältnis zum Wählerwillen. Aber wenn man so sicher ist, von Gott höchstpersönlich zur Herrschaft bestimmt worden zu sein, ist es eigentlich ja sowie eine Beleidigung, sich noch Wahlen stellen zu müssen.
Allerdings käme eine solche nicht lokale oder spontane, sondern systematische flächendeckende Wahlfälschung einem Putsch gleich, einer systematischen Aushebelung jener eigentümlichen halbdemokratischen Verfassungsordnung, welche die schiitische Geistlichkeit dem Lande nach der letzten Revolution vor nunmehr 30 Jahren gegeben hatte. Dies kann nicht das Werk des Ahmadinedschad allein gewesen sein. Ohne die Unterstützung durch jenen geistlichen Führer, der eigentlich das wahre Staatsoberhaupt des Iran ist, den zwölfköpfigen Rat der geistlicher Wächter und der Führung der Revolutionsgarden ist solches kaum denkbar. Das würde bedeuten, dass die schiitische Geistlichkeit, die politisch herrschende Kaste des Iran, de facto von der Halbdemokratie zur Diktatur übergehen will.
Wie und von wem war dieser Ahmadinedschad in sein Amt gewählt worden? Die bürgerlichen und gebildeten Schichten des Irans waren schon zum Zeitpunkt seinerWahl ziemlich kulturell globalisiert. Sie waren für Reformer, nicht für Konservative. Sie streben modernere Formen ihrer Klassenherrschaft an. Ahmadinedschad holte sich seine Stimmen bei den arbeitenden Klassen, deren berechtigte Abneigung gegen die neoliberale Globalisierung nutzend, ein mehr an sozialer Gerechtigkeit versprechend. Doch gerade dieses Versprechen hat er gebrochen. Auch im Iran wird die Kluft zwischen arm und reich immer größer. Die Masse der Bevölkerung profitiert nicht vom Ölreichtum des Landes. Zudem gehört der heutige Iran zu den gewerkschaftsfeindlichsten Ländern dieser Welt. Mit Prügelstrafen und Auspeitschungen wird auf Versuche zur Organisierung der Arbeiterklasse reagiert. Die halbmittelalterlich herrschende Kaste hat nunmehr offensichtlich in allen Klassen und Schichten des Volkes den Rückhalt verloren. Daher die Diktaturbestrebungen der politisch herrschenden Kaste. Aber das ganze Konstrukt der politischen herrschenden Geistlichkeit hat sich offensichtlich so sehr überlebt, jedes positiven Inhalts und jeden Rückhalts beraubt, dass es sicher in absehbarer Zeit wie ein Kartenhaus zusammenbrechen wird. Vielleicht ist der Zeitpunkt schon gekommen; für den heutigen Tag sind neue Massendemonstrationen angekündigt.
Die einzige Ideologie oder Forderung hinter der sich noch einmal alle Klassen und Schichten des iranischen Volkes vereinen ließen, wäre wohl die der vollständigen Demokratisierung unter Abschaffung der politischen Macht des Klerus. Eine durchgreifende Demokratisierung des Iran könnte zum ersten außenpolitischen Mega-Erfolg des Barack Obama werden, obwohl natürlich niemand darauf spekulieren sollte, dass der Iran in diesem Falle wieder so einseitig prowestlich werden würde wie zu Zeiten des Schahs. Der Iran würde seine spezifischen nationalen Interessen behalten und weiterhin vertreten. Präsident Obama hätte diesen Erfolg dann auch weniger seinem Tun als seinem Unterlassen zu verdanken: Allein die Tatsache des Unterlassens permanenter Kriegsdrohungen gegen den Iran, hat dem Ahmadinenschad wohl offensichtlich das letzte Mittel genommen, das Volk hinter sich zu vereinen.
Die Entstehung einer wirklichen Demokratie im Iran ohne fremde militärische Einmischung würde die politische Landschaft der Region mit Sicherheit nachhaltiger verändern, als die nach wie vor instabile Zwangsdemokratie im Irak. Dies wäre auch von großer Bedeutsamkeit für den Kampf gegen fundamental-islamistischen Terrorismus. Um hier nicht missverstanden zu werden: Man muss kein Freund der Mulla-Herrschaft sein, um zu wissen, dass Teheran nie Al Quaida oder die Taliban unterstützt hat. Eine solche Achse des Bösen hat nie bestanden. Das liegt einfach daran, dass Al Qaida von der wahabitischen Richtung des Islam hervorgebracht wurde, einer besonders radikalen Tendenz des sunnitischen Islam, für den die iranischen Schiiten einfach Erzketzer sind, ob nun fundamentalistsch oder nicht. Im Afghanistan der Talibanherrschaft wurden die Schiiten grausam verfolgt. Wenn die USA dem Iran eine Unterstützung des Terrorismus vorwarfen, so mag dies bzgl. radikaler Gruppierungen in Palästina und Libanon zutreffen. Viel entscheidender wäre aber, dass sich die Idee, die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme unserer Zeit mit Hilfe der Errichtung von Gottesstaaten, mit Hilfe der Rückkehr zu mittelalterlichen Wert- und Rechtsvorstellungen, zu lösen, sich in jenem Land, wo dies als erstem versucht wurde, nach 30-jähriger Praxis blamiert hätte. Diese Vorstellung dürfte damit auch in der Welt des sunnitischen Islam an Attraktivität verlieren.
Der nun in Gang gekommenen Massenmobilisierung des iranischen Volkes wäre demgemäß zu empfehlen, über die vollkommen berechtigte Forderung nach Wahlwiederholung hinaus, folgende Forderungen zu stellen, die auch von allen progressiven Menschen weltweit solidarisch unterstützt werden sollten:
Uneingeschränkte Demokratie. Abschaffung nicht vom Volk gewählter Verfassungsorgane wie dem geistlichen Führer, dem Wächterrat, der Expertenversammlung und dem Schlichterrat. Es blieben dann nur der vom Volk gewählte Präsident und das vom Volk gewählte Parlament.
Vollständige Trennung von Staat und Religion. Abschaffung aller auf der Scharia basierenden mittelalterlichen Strafen.
Vollständige Koalitionsfreiheit, vor allem auch für proletarische Gewerkschaften und Parteien.
Vollständige politische, juristische und ökonomische Gleichstellung der iranischen Frauen.