Die Universität des Terrors

Das House of Commons in London-Westminster. Quelle: Pixabay, gemeinfrei, CC0 Public Domain

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Vor einigen Tagen beging ein Mann im Zentrum von London, einer Stadt, die ich liebe, einen Terrorakt.

Er überfuhr mehrere Personen auf der Westminster Brücke, stach einen Polizisten zu Tode und näherte sich den Türen des Parlaments, wo er erschossen wurde. All dies im Schatten des Turms Big Ben, ein unwiderstehliches Photo-Ziel.

Es war ein elektrifizierendes weltweites Nachrichtenobjekt. Innerhalb von Minuten wurde Daesh die Schuld gegeben. Aber als die Wahrheit herauskam, war der Terrorist ein konvertierter britischer Bürger, ein Muslim, der in England geboren wurde. Von früher Jugend an hatte er eine Reihe von kleinen Straftaten begangen. Er war mehrere Male im Gefängnis gewesen.

Wie wurde ausgerechnet dieses Individum ein religiöser Fanatiker, ein Shahid – ein Zeuge der Wahrheit Allahs geworden, der sein Leben für die Größe des Islam opferte? Wie war er ein Straftäter von einer Tat geworden, die Europa und die Welt schockierte?

Bevor ich versuche, auf diese faszinierende Frage eine Antwort zu geben, bemerke ich noch eine Wirksamkeit des Terrorismus.

Wie der Terminus des „Terrorismus“ besagt, ist es eine Sache der sich ausbreitenden Furcht. Es ist eine Methode, um ein politisches Ende zu erreichen, indem man dem Volk Angst macht.

Aber warum fürchten sich die Menschen so sehr vor Terroristen? Das ist für mich immer ein Rätsel gewesen, sogar als ich als Junge zu einer Organisation gehörte, die von den britischen Lehensherren als „terroristisch“ bezeichnet wurde-

Ich weiß nicht, wie viele Leute bei Straßenunfällen im Vereinigten Königreich im selben Monat wie die Westminster-Attacke zu Tode kamen. Ich vermute, dass die Zahl sehr viel größer war. Doch die Leute fürchten sich nicht sehr vor Straßenunfällen. Sie halten sich nicht vom Spaziergang auf der Straße zurück. Gefährliche Autofahrer werden nicht vorsorglich in Haft gehalten.

Doch eine sehr kleine Anzahl von „Terroristen“ genügt, um eine hysterische Furcht im ganzen Land, auf ganzen Kontinenten, ja sogar auf dem ganzen Globus auszulösen.

Großbritannien sollte der letzte Ort in der Welt sein, dieser totalen irrationalen Furcht zu erliegen. 1940 stand diese kleine Insel gegen den Koloss des von Nazis eroberten Europa. Ich erinnere mich noch an ein mitreißendes Poster, das an den Mauern in Palästina befestigt war. Es zeigte den Kopf von Winston Churchill mit dem Slogan: „ Also dann alleine!“

Konnte ein einziger Terrorist mit einem Wagen und einem Messer dieses Land zum Fürchten bringen?

Für mich klingt dies verrückt, doch dies ist für mich nur eine Seitenbemerkung. Meine Absicht hier ist es, ein Licht auf eine Institution zu werfen, an die wenige Leute denken: ein Gefängnis.

Der Westminster-Terroristen-Angriff lässt eine einfache Frage aufkommen: Wie wird ein kleiner Krimineller zu einem Shahid, der weltweite Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Es gibt viele Theorien, viele von ihnen werden von Experten erhoben, die bei weitem kompetenter sind als ich. Religiöse Experten. Kulturelle Experten. Islamistische Experten. Kriminologen.

Meine eigene Antwort ist bei weitem sehr einfach. Es ist das Gefängnis, das dies tut.

Bewegen wir uns von Großbritannien und der Religion so weit weg wie möglich. Lasst uns nach Israel zurückkommen und zu unserer lokalen kriminellen Szene.

Wir hören oft von größeren Verbrechen, die von Leuten begangen wurden, die als jugendliche Straftäter begannen.

Wie wird eine gewöhnliche Person Chef eines organisierten Verbrechens? Wo hat er studiert? Nun, am selben Ort wie der britische Jihadist. Oder ein israelischer Muslim-Jihadist.

Ein Junge hat zu Hause Ärger. Vielleicht hat sein Vater seine geliebte Mutter regelmäßig geschlagen. Vielleicht ist seine Mutter eine Prostituierte. Vielleicht ist er ein dummer Schüler gewesen und wurde von seinen Kameraden verachtet. Irgendeine von Hundert Gründen.

Mit 14 wird der Junge beim Diebstahl ertappt. Nachdem er von der Polizei gewarnt und entlassen wurde, stiehlt er wieder. Er wird ins Gefängnis gesteckt. Im Gefängnis adoptiert ihn der respektierteste Verbrecher, vielleicht sogar sexuell. Er wird immer wieder ins Gefängnis gesteckt und langsam steigt er in der unsichtbaren Gefängnis-Hierarchie hoch.

Er wird von seinen Mitgefangenen respektiert, er hat Autorität. Das Gefängnis wird seine Welt, er kennt die Regeln. Er fühlt sich gut.

Als er entlassen wird, wird er wieder ein Niemand. Die Korrektur Behörde behandelt ihn wie einen Gegenstand. Er sehnt sich danach, in seine Welt zurückzukehren, an den Ort, an dem er bekannt ist und respektiert. Er wird nicht ins Gefängnis geschickt, weil er ein Verbrechen begangen hat. Er begeht ein Verbrechen, um wieder ins Gefängnis geschickt zu werden.

Er wird selbst ein Verbrecher-Boss. Als er ins Gefängnis zurückkehrt, behandelt ihn sogar der Direktor wie einen alten Bekannten.

Während der Jahre hat das Gefängnis für ihn wie eine Universität gewirkt, eine Universität der Verbrechen. Es ist dort, wo er all die Tricks eines Gewerbes lernte, bis er selbst ein Professor geworden ist.

Der kleine ins Gefängnis gesperrte Muslim-Dieb, mag dort einem gefangenen Muslim-Prediger getroffen haben, der ihn überzeugte, dass er kein verachteter Krimineller sei, sondern einer von den wenigen von Allahs Erwählten, um die Ungläubigen zu zerstören.

Al dies ist alter Stoff. Ich enthülle nichts Neues. Jeder Häftling, jeder höhere Polizei-Offizier, jeder Gefängnisdirektor oder Psychologe weiß es viel besser als ich.

Wenn es so ist, wie kommt es, dass keiner etwas dagegen tut? Warum funktioniert das Gefängnis heute wie vor hundert Jahren?

Ich habe den Verdacht, dass die einfache Antwort folgende ist: Keiner weiß, was stattdessen getan werden muss.

Die Briten hatten einst eine gute Antwort: sie schickten alle Kriminelle, selbst kleine Diebe nach Australien. Falls sie nicht schon vorher aufgehängt worden sind.

Aber in modernen Zeiten ist dieses Hausmittel abhanden gekommen. Australien ist jetzt eine starke Nation, das unglückliche Flüchtlinge auf entfernte pazifistische Inseln schickt.

Die Vereinigten Staaten, die mächtigste Weltmacht mit einigen der besten Universitäten, halten Millionen ihrer Bürger in Gefängnissen, wo sie zu abgehärteten Kriminellen werden.

Israels Gefängnisse sind zum Platzen voll mit Inhaftierten, viele von ihnen sind „Terroristen“, die ohne Gerichtsverhandlung dort sind. Dies wird beschönigend „Präventiv-Haft“ genannt – ein Oxymoron.

Wenn man einen Polizei-Offizier über die Logik dieses ganzen Systems fragt, zuckt er mit seinen Schultern und antwortet – die jüdische Art und Weise – mit einer anderen Frage: Was kann man sonst mit ihnen tun?

So hat die Gesellschaft Jahr um Jahr, Jahrhunderte um Jahrhunderte seine Kriminellen in die Kriminal-Universität geschickt. Studium mit Vollpension und Ausgaben, die vom Staat bezahlt werden.

Und natürlich hängt eine riesige Armee von Gefängniswärtern, Polizei-Männer und -Frauen, Experten und Akademiker mit ihrem Lebensunterhalt von diesem System ab. Alle sind glücklich.

Seltsam genug: ich war nie im Gefängnis, obwohl ich mehrere Male nahe dran war.

Wie ich schon woanders erzählte, schlug einmal der Ministerpräsident vor, mich in „Administrativ-Haft“ zu nehmen, ohne Richter, als ausländischen Spion. Dies war nur von Menachim Begin, dem Führer der Opposition verhindert worden, der seine Zustimmung verweigerte.

Ein anderes Mal war nach meinem Treffen mit Yassir Arafat während der Belagerung von Beirut, als die Regierung offiziell den General-Anwalt bat, mich wegen Verrats zu untersuchen. Der Anwalt, eine nette Person, entschied, ich hätte kein Verbrechen begangen. Ich hätte keine Grenze illegal überschritten, weil ich in das belagerte Ost-Beirut von der israelischen Armee als Zeitungsherausgeber eingeladen war. Es gab also keinen Verdacht, dass ich die Absicht hatte, die Sicherheit des Staates zu verletzen.

Ich habe also soweit keine persönliche Erfahrung mit dem Gefängnis gemacht. Aber die Absurdität der ganzen Situation hat mich viele Jahre beschäftigt. Ich hielt mehrere Reden darüber in der Knesset. Vergebens. Keiner weiß eine Alternative.

Meine verstorbene Frau war eine Lehrerin. Sie weigerte sich immer, eine höhere Klasse als die zweite zu nehmen. Sie war davon überzeugt, dass in diesem Alter der Charakter eines menschlichen Wesens schon voll entwickelt ist.

Wenn es so ist, dann sollten alle Bemühungen sich auf dieses sehr frühe Alter konzentrieren.

Ich bin mir sicher, dass irgendwo Experimente mit anderen Antworten ausgeführt werden. Vielleicht in Schweden oder auf der Insel Fiji.

Wäre es nicht höchste Zeit?

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 22.04.2017 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.

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